Film und Gespräch: Heller Weg
19:00 Uhr, Kulturwerkstatt Westend
Mit Regisseurin Iryna Riabenka, moderiert von Oksana Chorna
Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Natalia Fedorenko (Bremen)
Coming of Age in the Urals in the Early 1960s: Ideals and Perspektives of the Middle Class. The Story of Anna Tarshis
Wissenswertes
Wir trauern um László Rajk
(* 26.01.1949 in Budapest; † 11.09.2019 ebenda)
Foto: Ingo Wagner
László Rajk
Sein Leben begann wie eine griechische Schicksalstragödie. Er ist im Januar 1949 geboren und im September desselben Jahres wurde sein Vater, der Vorkriegskommunist und Spanienkämpfer László Rajk, zuerst Innen-, später Außenminister der Republik Ungarn, von der Geheimpolizei ÁVH verhaftet. Da auch seine Mutter Júlia in Arrest kam, ließ man den Säugling in ein staatliches Kinderheim einweisen, wo er unter dem Namen „István Kovács“ versteckt wurde. Der Minister Rajk fiel inzwischen dem größten stalinistischen Schauprozess der ungarischen Nachkriegsgeschichte zum Opfer – er wurde des Trotzkismus, des Titoismus, der Spionage und anderer „volksfeindlicher Delikte“ bezichtigt, aufgrund durch physische und psychische Folter erzwungener Aussagen zu Tode verurteilt und hingerichtet. Erst unter Imre Nagys Regierungszeit 1954 konnte Júlia Rajk freigelassen werden und ihren Sohn wiedersehen. Inzwischen hatte man den Diktator Mátyás Rákosi abgelöst, die Opfer des Rajk-Prozesses rehabilitiert – Rajk und seine ermordeten Mitangeklagten feierlich neu beerdigt. Ich erinnere mich an die erschütternden Bilder in der Kinowochenschau: Die Kamera schwenke für ein paar Sekunden auf den siebenjährigen Laci neben seiner Mutter und auf Imre Nagy, der als Privatperson an der Trauerzeremonie teilnahm.
Damit war jedoch das Drama noch nicht beendet. In den frühen Morgenstunden des 4. Novembers 1956, als die sowjetischen Panzer in Budapest einrollten, um den Volksaufstand niederzuwalzen, erhielt eine Gruppe von Menschen, die Anhänger Nagys waren, politisches Asyl in der jugoslawischen Botschaft – mit Familienangehörigen samt Kindern waren es 41 Personen, unter ihnen Júlia und László. Obwohl ihnen der neue Parteichef János Kádár freies Geleit versprach, wurden sie beim Verlassen des Botschaftsgebäudes von sowjetischen Militärs entführt, nach Rumänien deportiert und von der Außenwelt isoliert. Nach und nach verschwanden zuerst die Männer, von denen ein Teil, mit Imre Nagy an der Spitze, als Angeklagte des kommenden Schauprozesses vorgesehen waren. Erst nach dessen Abschluss im Juni 1958 und Hinrichtung der Angeklagten durften die anderen, so auch Júlia und ihr Sohn, nach Ungarn zurückkehren.
Nichts von dieser Tragik war dem jungen Architekten, Bühnenbildner, gelegentlich sogar Filmschauspieler anzumerken, als ich ihn gegen Mitte der siebziger Jahre in der sich damals formierenden demokratischen Opposition kennenlernte. Ein Mann von mächtiger Statur, starker, ruhiger und weicher Stimme, eine Gestalt voller souveräner Heiterkeit. Als er in der „Szene“ erschien, befand sich der ungarische Dissens in einer Umbruchphase: von den ersten Petitionen für Menschenrechte, an denen László bereits beteiligt war, sowie den „fliegenden Universitäten“ nach polnischem Modell, ging man zu neuen Formen der geistigen Präsenz über: Der ungarische Samisdat entstand – neben der illegalen Zeitschrift „Beszélő“ („Sprecher“) auch Bücher, vor allem bei dem „Unabhängigen AB Verlag“. Organisatorisch war diese Wende von Gábor Demszky initiiert und von zahlreichen Aktivisten mitgetragen. Was dabei Rajk leistete, bestand aus seiner Fähigkeit, der Produktion unerlaubter Literatur eine ästhetische Form zu verleihen. Seine Covers und Illustrationen schafften es, die mit einfacher Technik („Ramka“, Siebdruck“) hergestellten Bücher als Kunstgegenstände besonderer Art erscheinen zu lassen. Obwohl die Aktion angesichts der offiziellen Tabus primär politisch war und im Prinzip mitunter den Tatbestand „staatsfeindlicher Hetze“ oder „Verstoß gegen das Presserechtsgesetz“(sic!) erfüllen konnte, enthielt Lászlós Gestus neben dem künstlerischen Moment etwas rein persönliches, was leider unserer Generation heutzutage abhandengekommen war: die Lust am Dissens.
Ganz überraschend verfügte der Buchgestalter des Samisdat über ungeahnte Managerfähigkeiten. In seiner kleinen Mietwohnung an der Budapester Galamb-utca (Taubenstraße) eröffnete Rajk seine berühmte „Boutique“, in der wöchentlich einmal oppositionelle oder Exilliteratur gekaufte werden konnte. Obwohl der historische Name „Rajk“ einer Zeitlang dem Buchhändler einen gewissen Schutz gewährte, überschritt er offensichtlich mit dieser Tätigkeit eine rote Linie. Mit einer massiven Polizeirazzia wurden die „Boutique“ im Dezember 1982 aufgelöst, die Druckwerke beschlagnahmt und Rajk das Wohnrecht weggenommen. Damit begannen auch die behördliche Schikanen: Es folgten Verhöre, Verwarnungen und schließlich erhielt er als Architekt keine Aufträge mehr – in einem Land, wo der Staat fast der einzige Auftraggeber war; praktisch handelte es um einen Berufsverbot. László erlebte all diese Schwierigkeiten mit seiner sanften und unbeugsamen Art und agierte auf eigene Faust: Im Juni 1988 entwarf er ein Mahnmal für Imre Nagy auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise. Hierduch wurde ein schicksalhafter Zusammenhang wiedergestellt. Es dauerte nur noch ein Jahr und László Rajk Junior baute an den Kulissen für die Trauerzeremonie – jetzt ging es um die Rehabilitierung von Imre Nagys Kampfgefährten. Mehr als Hunderttausend Menschen verabschiedeten sich vor der Kunsthalle auf dem Budapester Heldenplatz von den Opfern von 1956 und gleichzeitig auch von der darauffolgenden Ära Kádár.
Die Wende, die man in Ungarn „Systemwechsel” nennt, änderte an Lászlós Leben einiges. Einerseits konnte er sich nun als Architekt entfalten – hiervon zeugt unter anderem die Markthalle auf dem Budapester Lehel-Platz und das umgebaute Wiener Collegium Hungaricum. Selbst seine Managererfahrungen waren ihm zunutze, als er gemeinsam mit seiner Frau Judit die EU-Kulturstiftung gründete, welche zahlreiche ostmitteleuropäische Veranstaltungen förderte. Auf der anderen Seite war es nur natürlich, dass er als Mitbegründer des Bundes der Freien Demokraten (SZDSZ) und Parlamentsabgeordneter bis 1996 eines der Gesichter der jungen Demokratie war. Allerdings gehörte Politik nicht zu seinen Leidenschaften, und als die liberale Partei in seinen Augen nicht mehr die Kontinuität mit der Menschenrechtsopposition der siebziger und achtziger Jahre vertrat, trat er 2009 aus dem SZDSZ aus. Gleichzeitig hielt Rajk an der dissidentischen Tradition fest, was sich nicht zuletzt an der Mitgestaltung der von der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen kuratierten Samisdat-Ausstellung (2000) zeigte. Mit wachsender Unruhe und bei ihm eher selten gesehener offener Empörung reagierte er auf die Erosion der demokratischen Werte und die autoritäre, „illiberale” Praxis der Regierung von Viktor Orbán.
Ein großer Mensch hat uns verlassen.
György Dalos
László Rajk übergab dem Archiv der Forschungsstelle Osteuropa zahlreiche Samizdat-Schriften und Werke der ungarischen Exilverlage, dazu Grafiken, Kunstkataloge, Flugblätter, Plakate; Einladungen, biographische Notizen zu Gulag-Häftlingen (ein Manuskript von János Rósza).
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