Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Maike Lehmann (Bremen)
Kul‘turnost‘ and Non/Belonging in the Late Soviet Union
(65% der vollen Wochenarbeitszeit, Entgeltgruppe 13 TV-L)
ab dem 01. Januar 2025 befristet für 3 Jahre. Bewerbungsfrist: 31.10.2024
Diskussion: Was ist „Osteuropa“? Geschichte und Gegenwart eines widersprüchlichen Konzepts
19 Uhr, Bibliothek der Weserburg Museum für moderne Kunst
Anastasia Tikhomirova, Hans-Christian Petersen, Artur Weigandt, Klaas Anders
Ukrainische Schriftsteller*innen in Zeiten des Krieges
18:00 Uhr, Europapunkt Bremen
Oxana Matiychuk, Susanne Schattenberg
Wissenswertes
Passierschein 112
Tschingis Gussejnows Zugangsschein zum Prozess Sinjawski/Daniel am 12. Februar 1966 in Moskau. Zum 85. Geburtstag des Schriftstellers und Literaturwissenschaftlers.
Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Bremen, FSO 01-023
Das rosafarbene Papierstück mit der Nummer 112 gewährte den Zugang zu einem der bedeutendsten Gerichtsprozesse der sowjetischen 1960er Jahre. Ausgestellt ist der Passierschein auf Tschingis Gussejnow, dessen Bestand im Archiv der Forschungsstelle Osteuropa aufbewahrt wird. Im stickigen Saal des Obersten Gerichts der Russländischen Sowjetrepublik saßen die Schriftsteller Andrej Sinjawski und Juli Daniel vom 10. bis 14. Februar 1966 auf der Anklagebank. Sie hatten unter den Pseudonymen Abram Tertz (seit 1959, Sinjawski) und Nikolai Arzhak (seit 1962, Daniel) unerlaubt im Ausland publiziert, waren 1965 verhaftet worden und sahen sich nun dem Vorwurf ausgesetzt, die Sowjetunion im Ausland verunglimpft zu haben.
Der 1929 in Baku geborene aserbaidschanisch-russländische Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Tschingis Gussejnow wirkte von 1955 bis 1971 in der Kommission für Literatur der Völker der Sowjetunion beim sowjetischen Schriftstellerverband als Berater und war seit 1959 auch Mitglied des Schriftstellerverbands. Laut Tagebucheintrag vom 10. Februar 1966 bemühte er sich über Parteisekretär Tschugunow, Zugang zum Prozess zu erhalten. Das Moskauer Stadtkomitee der Partei händigte ihm den mit der Nummer 112 gestempelten Schein unausgefüllt aus, sodass er selbst seinen Namen eintrug: Gussejnow, Tschingis Gasan ogly, letzteres die aserbaidschanische Variante des Vatersnamens.
Dieser Prozess war nach Boris Pasternaks 1957 zunächst in Italien publiziertem Roman Doktor Schivago die zweite große sowjetische ‚Auseinandersetzung‘ um den tamisdat, der „dort“ im Westen veröffentlicht wurde. Nach Jahren der vorsichtigen Öffnung unter Nikita Chruschtschow, nach Veröffentlichung von Alexander Solschenizyns Ein Tag im Leben des Iwan Denisowitsch 1962 etwa, fürchtete die sowjetische Intelligenzija, dieser Prozess könnte Auftakt neuerlicher Repressionen sein. Bereits drei Tage nach Sinjawskis Verhaftung 1965 war es im Umfeld von Solschenizyn zu Razzien des KGB gekommen, wie Raissa Orlowa und Lew Kopelew in ihren Erinnerungen Wir lebten in Moskau vermerken. In der Folge hätten sie bei sich eine „vorsorgliche Säuberung“ durchgeführt: „Manuskripte – eigene und fremde –, Briefe und Tagebücher teilten wir in drei Gruppen: 1. kann man zu Hause lassen, 2. sind außerhalb des Hauses, aber in der Nähe aufzubewahren, 3. sind für lange Zeit und möglichst weit weg zu verstecken.“ Orlowas und Kopelews umfangreicher Nachlass wird ebenfalls im Archiv der FSO aufbewahrt.
Tschingis Gussejnow notierte nach dem Prozess in sein Tagebuch: „Junge Leute begleiten am Eingang die Heraustretenden mit stechenden Blicken“, und fragte sich: „Ist das eine Episode oder ein Programm für die Zukunft?“ Und nach der Urteilsverkündung, Sinjawski wurde zu sieben und Daniel zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt: „Lange werde ich nicht arbeiten können: Daniel, Sinjawski, ihre Gesichter, ihre Frauen, das Urteil, die Atmosphäre dort und rundherum, Streit, Reibung, Uneinigkeit.“
Vier Tage nach der Urteilsverkündung schloss der Moskauer Schriftstellerverband Sinjawski „als Heuchler und Verleumder, der seine Feder in den Dienst sowjetfeindlicher Kreise gestellt hatte“ und „für die Veröffentlichung ideell-schädlicher Werke“ aus dem Verband aus. Gusejnov notierte hierzu in sein Tagebuch: „Wo sind diese Dinge veröffentlicht? Wie lässt sich ‚ideell-verwerflich‘ feststellen? Das haben sie ihm angehängt.“ Es beschäftigte ihn auch seine eigene Rolle: „Ist es Heroismus zu schweigen? Dem Papier sein Herz auszuschütten? Rein zu sein gegenüber der Geschichte und den Nachkömmlingen?“
Andere ergriffen in Form von Unterstützerbriefen öffentlich Partei für Sinjawski und Daniel, woraus mittelfristig eine starke Gegenbewegung erwuchs. Der Prozess fand nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch im Westen ein starkes Medienecho. Eine inoffizielle Transkription der Prozessinhalte wurde noch im selben Jahr als Weißbuch in Sachen Sinjawski/Daniel im Possev Verlag in Frankfurt/Main veröffentlicht. Alexander Ginsburg, der das Weißbuch in der Sowjetunion zusammenstellte und in den Westen schmuggeln ließ, musste sich neben anderen hierfür 1968 ebenfalls vor Gericht verantworten. Der erste Eintrag des berühmten Untergrund-Bulletins Chronik der laufenden Ereignisse, das von 1968 bis 1983 von Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion berichtete, handelte von diesem, erneuten Prozess. Es ist ein Schlüsselereignis der Geschichte der sowjetischen Dissidentenbewegung, das sich hinter dem unscheinbaren Passierschein 112 verbirgt.
Im Archiv der Forschungsstelle Osteuropa finden sich in Tschingis Gussejnows Bestand unter anderem Dokumente des sowjetischen Schriftstellerverbandes, umfangreiche Tagebucheinträge (1960-2009), Briefe russischer und aserbaidschanischer Schriftsteller und eine reiche samisdat-Sammlung, im Selbstverlag veröffentlichte Texte und Gedichte, unter anderem vom Alexander Solschenizyn, Andrej Sacharow, Anna Achmatowa und Boris Pasternak.
Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Bremen, FSO 01-023
Lesetipps:
Raissa Orlowa, Lew Kopelew: Wir lebten in Moskau, München und Hamburg 1987.
Tschingis Gussejnow: Minuvschee – nawstretschu: memuarnoe powestwowanie, Moskau 2009.
Manfred Zeller
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