Film und Gespräch: Heller Weg
19:00 Uhr, Kulturwerkstatt Westend
Mit Regisseurin Iryna Riabenka, moderiert von Oksana Chorna
Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Natalia Fedorenko (Bremen)
Coming of Age in the Urals in the Early 1960s: Ideals and Perspektives of the Middle Class. The Story of Anna Tarshis
Wissenswertes
Bis das Eis bricht
Eine Szene vom Ende des Ersten Weltkriegs anlässlich des Kriegsausbruchs vor 100 Jahren
Foto: Fabian Winkler Fotografie. Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Bremen, FSO 01-110 Warneck
Schlamm, Kälte und Frost plagten die stark beeinträchtigten Truppen der zarischen Armee, die im Februar 1917 eine zugefrorene Bucht westlich von Odessa überquerten. Das Eis hielt, doch nur wenige Tage später brach die ganze ihnen bekannte Welt ein. Die Truppenverbände waren von Krätze heimgesucht. Gemeinsam mit Pferden, Vieh, Fuhrwerken, zweirädrigen Karren und Maschinengewehren wurden sie im Dezember 1916, so schildert der geheime Rapport an das Kommando der Transportflottille des Schwarzen Meeres, zunächst mittels motorisierter Schiffe über das Dnestrowsker Haff gesetzt, die Mündungsbucht des Flusses Dnestr am Nordwestufer des Schwarzen Meeres, um sich den vorrückenden Armeen der Mittelmächte entgegenzustellen.
Doch Anfang Januar 1917 zwangen Stürme einige Schiffe zur Umkehr, andere verloren im Nebel die Orientierung, wenn nicht die Schiffsmaschinen versagten. Die Truppen warteten indes in feuchten Unterkünften auf die verzögerte Überfahrt, erkrankten und wurden nach Odessa abkommandiert, oder sie quälten sich in verschlissenen Stiefeln, die kein Schumacher mehr flickte. Als die ersten Schiffe im Eis stecken blieben, wurde der Transport der Truppen gestoppt. Die Eisschicht erschien dem Kommando aber am 18. Januar dick genug, um die rund zehn Kilometer breite Bucht zu Fuß zu durchqueren. Das Kommando ließ auf der Strecke Holzbuden und Posten aufstellen, die unter anderem den Zustand des von Tauwetter und Regen bedrohten Eises beobachten sollten, über das sich bis Anfang Februar 30.000 Soldaten schleppten.
Der Erste Weltkrieg bedeutete für Russland das Ende der bisherigen Ordnung. Das Zarenreich trat an der Seite Großbritanniens und Frankreichs in den Krieg gegen die Mittelmächte um das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn ein. Während sich aber an der Westfront bereits Ende 1914 ein langwieriger Stellungskrieg entwickelte, gerieten die Alliierten im Osten stark in die Defensive, da Truppen des Osmanischen Reiches, Bulgariens und des Deutschen Reiches Ende 1916 Teile Rumäniens eroberten.
Nach anfänglicher Kriegsbegeisterung schlug die Stimmung auch im Inneren des Zarenreichs um. Zum Zeitpunkt des äußerst anspruchsvollen Truppentransports über das Dnestrowsker Haff erschütterten bereits Streiks, Unruhen und Demonstrationen die Hauptstadt Petrograd. Nur wenige Tage später dankte Zar Nikolaus II. in Folge der Februarrevolution ab. Nach der Machtergreifung durch die Bolschewiki im Oktober 1917 besetzten die Mittelmächte zahlreiche Gebiete im Baltikum, in Weißrussland und auch in der Ukraine. Der Friedensvertrag von Brest-Litowsk sicherte neben Zusatzverträgen die Unabhängigkeit der Ukraine, auf deren Gebiet die Zarenarmee noch Tage vor dem Zusammenbruch der alten Ordnung über dünnes Eis wandelte.
Der Erste Weltkrieg war der Auftakt zu mehreren Jahrzehnten der Gewalt in Osteuropa. Dem folgenden blutigen Bürgerkrieg zwischen revolutionären Bolschewiki und ihren Widersachern fielen bis 1920 Millionen Menschen zum Opfer. Viele emigrierten, und erlebten die innere Konsolidierung der neuen Ordnung, Stalins Revolution von Oben, die Kollektivierung, die Hungersnöte und den erneuten Massenmord nicht mehr vor Ort.
Einer von ihnen war der spätere Militärhistoriker Pjotr Warnek (1902/3-1980), Sohn des Nordpolarmeerforschers Alexander Warnek und Archivgeber der Forschungsstelle Osteuropa. Nach seiner Emigration von der Krim 1920 ließ er sich in Belgien nieder und widmete sein Leben der russischen Militärgeschichte. Unter anderem erschienen Texte über Kampfhandlungen während des Ersten Weltkriegs und des Bürgerkriegs in der Presse russischer Emigranten im Westen.
Damit war er Teil einer Exil-Erinnerungskultur an den Ersten Weltkrieg, die es in der Sowjetunion nicht geben konnte, wo 1917 ein Jahr revolutionärer Helden und nicht einer schmerzlichen Kriegsniederlage zu sein hatte. Aufgrund seines Forschungsinteresses erreichte das einst geheime Dokument auf kaum mehr nachzuvollziehenden Wegen sein persönliches Archiv, das nun von der Forschungsstelle Osteuropa gehalten wird.
Foto: Fabian Winkler Fotografie. Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Bremen, FSO 01-110 Warneck
Lesetipps:
Neil Asherson, Schwarzes Meer, Berlin 1999.
Ausstellung, Deutsches Historisches Museum, Der Erste Weltkrieg 1914-1918.
https://www.dhm.de/ausstellungen/der-erste-weltkrieg/die-ausstellung.html
Werner Benecke: Die Wehrpflicht in Russland 1874-1914, Paderborn 2006.
Manfred Zeller
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