Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Maike Lehmann (Bremen)
Kul‘turnost‘ and Non/Belonging in the Late Soviet Union
(65% der vollen Wochenarbeitszeit, Entgeltgruppe 13 TV-L)
ab dem 01. Januar 2025 befristet für 3 Jahre. Bewerbungsfrist: 31.10.2024
Diskussion: Was ist „Osteuropa“? Geschichte und Gegenwart eines widersprüchlichen Konzepts
19 Uhr, Bibliothek der Weserburg Museum für moderne Kunst
Anastasia Tikhomirova, Hans-Christian Petersen, Artur Weigandt, Klaas Anders
Ukrainische Schriftsteller*innen in Zeiten des Krieges
18:00 Uhr, Europapunkt Bremen
Oxana Matiychuk, Susanne Schattenberg
Wissenswertes
Zum 25jährigen Jubiläum der ‚Samtenen Revolution‘ in der Tschechoslowakei
Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Bremen, FSO 2-095
Im Spätherbst und Winter des Jahres 1989 überschlugen sich die Ereignisse in der Tschechoslowakei. Nach 20 Jahren der so genannten Normalisierung – einer Phase, in der die Ergebnisse der Reformbewegung von 1968 weitgehend rückgängig gemacht und zivilgesellschaftliche Ansätze systematisch unterdrückt wurden – kam es, beginnend mit der großen Studentendemonstration am 17. November, zu öffentlichen Protesten, zivilgesellschaftlichen Initiativen und der Begründung neuer politischer Strukturen. Auf dem Wenzelsplatz wurde nicht nur demonstriert; es fanden auch öffentliche Konzerte und politische Diskussionen statt.
Als Kulminationspunkt kann die Wahl eines neuen Staatspräsidenten am 29. Dezember 1989 gesehen werden. Zur Diskussion für das Amt standen verschiedene Kandidaten: Ladislav Adamec von der Kommunistischen Partei, aber auch Alexander Dubček und Čestmír Císař, die beide zu den „Veteranen“ des Prager Frühlings gezählt werden können, sowie der Schriftsteller und Dissident Václav Havel, Kandidat der demokratischen Plattform „Bürgerliches Forum“ (Občanské fórum). Die Debatte über die Auswahl der Kandidaten verlief nicht nur innerhalb des Parlamentes, sondern auch auf der Straße. Davon zeugen unsere Archivalien des Monats: Fotos der Reiterstatue des Heiligen Wenzel, beklebt mit Bildern historischer Persönlichkeiten sowie mit Werbeplakaten für die Wahl Václav Havels.
Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Bremen, FSO 2-095
Diese Fotografien sind einem neuen Bestand entnommen, der erst kürzlich für das Archiv der Forschungsstelle eingeworben werden konnte: Fotografien und Dokumente aus der Sammlung Hans-Joachim Webers, der 1989 in der deutschen Botschaft in Prag tätig war.
Es ist keineswegs ein Zufall, dass die Reiterstatue des Heiligen Wenzel zu einer Plattform des Protestes bzw. der politischen Aufrufe gemacht wurde: nicht nur 1989, sondern auch schon 1968 und früher bildete „das Pferd“ einen Sammlungs- und Identifikationsort für Protest- und Solidaritätsbewegungen. Der Heilige Wenzel, Landespatron Böhmens, gilt bis heute als Retter, der in schweren Zeiten auftauchen und seinem Volk helfen wird. Dieser Topos wird deutlich auf einem Plakat aufgegriffen, das hinter der Flagge haltenden Frau im zweiten Bild nur halb zu erkennen ist: hier taucht der Heilige Wenzel wie aus einem Nebel auf und schwenkt die Staatsflagge. Mit der Aufschrift verkündet er gewissermaßen: „Freie Wahlen!“. Damit wird suggeriert, dass nun die Wende von schweren Zeiten hin zu einer besseren Zukunft gekommen sei. Wenn direkt darüber ein Plakat mit der Losung „Havel als Präsident!“ geklebt wurde, so wird hier ein direkter Zusammenhang hergestellt von großer Vergangenheit und Hoffnungen auf eine ebenfalls große Zukunft – die an den Namen Havels geknüpft sein sollte. Die Tatsache, dass Havel mit dem Nationalheiligen den gleichen Vornamen teilte – Václav – bildete einen weiteren komfortablen Bezugspunkt, der in anderen zeitgenössischen Plakaten explizit, wenn auch mit Augenzwinkern aufgegriffen wurde: „Wählt Havel, er ist doch ein Václav!“.
Die Bezugnahme auf den Landespatron und damit eine mythische Vergangenheit wird ergänzt durch weitere Plakate, die auf bekannte Topoi und Persönlichkeiten der Vergangenheit verweisen: So wird hier mit dem Portrait Alexander Dubčeks sowie einer Todesanzeige für den Studenten Jan Palach, der sich 1969 aus Protest gegen die sowjetische Okkupation selbst verbrannte, an die Reformbewegung 1968 erinnert. Auf der anderen Fotografie, die offenbar einige Wochen früher aufgenommen wurde, sind vor allem die Verweise auf Tomáš Masaryk prominent, den bewunderten und häufig als Idealdemokraten verklärten Präsidenten der Ersten Republik von 1918-1938.
Bemerkenswert an diesen Fotografien ist nicht zuletzt die Tatsache, dass die Statue eines verehrten Nationalheiligen beklebt und mit Plakaten und Transparenten ausstaffiert wurde. Was andernorts und zu anderer Zeit als Vandalismus verstanden werden mag, ist hier ein Ausdruck nicht nur demokratischen Begehrens, sondern vor allem auch nationaler Einheit. Getragen von einem solchen Einheitsgedanken, zog Václav Havel am 29. Dezember als Staatspräsident der Tschechoslowakei in die Burg ein.
Lesetips:
Niklas Perzi et al. (Hg): Die Samtene Revolution. Vorgeschichte – Verlauf – Akteure. Frankfurt am Main 2009.
Jeffrey Symynkywicz: Václav Havel and the Velvet Revolution. Parsippany, New Jersey 1995.
Michael Zantovsky: Václav Havel: In der Wahrheit leben. Berlin 2014.
Tereza Gronychová, Kristýna Baborová, Martina Winkler
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