Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Maike Lehmann (Bremen)
Kul‘turnost‘ and Non/Belonging in the Late Soviet Union
(65% der vollen Wochenarbeitszeit, Entgeltgruppe 13 TV-L)
ab dem 01. Januar 2025 befristet für 3 Jahre. Bewerbungsfrist: 31.10.2024
Diskussion: Was ist „Osteuropa“? Geschichte und Gegenwart eines widersprüchlichen Konzepts
19 Uhr, Bibliothek der Weserburg Museum für moderne Kunst
Anastasia Tikhomirova, Hans-Christian Petersen, Artur Weigandt, Klaas Anders
Ukrainische Schriftsteller*innen in Zeiten des Krieges
18:00 Uhr, Europapunkt Bremen
Oxana Matiychuk, Susanne Schattenberg
Wissenswertes
Menschenrechts-Monitoring in der Sowjetunion. Die Gründung der Moskauer Helsinki-Gruppe
40 Jahre Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte
Foto: Fabian Winkler Fotografie. Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Bremen
Am 1. August 1975 unterzeichneten die Regierungs- und Parteichefs der Staaten sowohl West- als auch Osteuropas sowie der USA und Kanadas in Helsinki nach schwierigen Verhandlungen, die über zwei Jahre andauerten, die Schlussakte der Konferenz zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Während die westlichen Staaten aufgrund der Verankerung der Menschenrechte in der Vereinbarung einen wichtigen Sieg für sich verbuchten, meinten die sozialistischen Staaten des Warschauer Paktes, den Ländern des Westens ebenfalls bedeutende politische Zugeständnisse abgerungen zu haben: die Anerkennung der Prinzipien ihrer souveränen Gleichheit sowie die Anerkennung bestehender Grenzen und der gegenseitigen Nichteinmischung in innere Angelegenheiten. Die dafür im Gegenzug eingegangenen Menschenrechtsgarantien erschienen den Unterzeichnern aus dem sozialistischen Lager als billiger Preis auf geduldigem Papier.
Dies sollte sich jedoch als folgenschwere Fehleinschätzung erweisen: Am 12. Mai 1976 veröffentlichten bekannte Moskauer Dissidenten in der Wohnung von Andrej Sacharow die hier vorgestellte Gründungserklärung für eine „Fördergruppe zur Erfüllung der Beschlüsse von Helsinki in der UdSSR“. Die Gruppe, zu der Juri Orlow, Ludmila Alexejewa und Anatoli Scharanski gehörten, nahm die Menschenrechtsbestimmungen der Schlussakte wörtlich und machte es sich zur Aufgabe, ihr widersprechende Menschenrechtsverletzungen im In- und Ausland bekannt zu machen. Die regelmäßig zusammengestellten Informationen über Menschenrechtsverletzungen wurden innerhalb der Sowjetunion im Selbstverlag (russ: samizdat) verbreitet und anschließend in den Westen geschmuggelt. Dort übersetzten und publizierten westliche Unterstützungsorganisationen die von der Moskauer Helsinki-Gruppe herausgegebenen Texte.
Foto: Fabian Winkler Fotografie. Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Bremen
Als Archivale des Monats sehen Sie daher das im Selbstverlag verbreitete maschinengeschriebene Original der Gründungserklärung aus dem Bestand des in Moskau ansässigen Ökonomen und Samizdat-Aktivisten Wiktor Sokirko sowie die von der Gesellschaft für Menschenrechte in Frankfurt/Main auf Deutsch herausgegebene Dokumentensammlung aus dem Nachlass des in die Bundesrepublik Deutschland emigrierten ehemaligen sowjetischen Politgefangenen Georgi Dawidow.
Mit ihrer Gründung stellte sich die Moskauer Helsinki-Gruppe in die Traditionen sowjetischer Andersdenkender, die sich seit den 1960er Jahren auf die rechtlichen Verpflichtungen des sowjetischen Staates gegenüber seinen Bürgern beriefen. Die Unterzeichnung der Helsinki-Schlussakte schuf die notwendigen Rahmenbedingungen, um einen Schritt weiterzugehen: Der Umgang mit Menschenrechten in der UdSSR gelangte auf die internationale Bühne.
Nach dem Moskauer Vorbild bildeten sich in den folgenden Monaten lokale Helsinki-Gruppen in den Hauptstädten weiterer Sowjetrepubliken, etwa in Kiew, Vilnius oder Tiflis. Zwar beeinflussten die sowjetischen Helsinki-Gruppen die reale Politik ihres Landes nur bedingt, doch gelang es ihren Mitgliedern, weitreichende Informationsnetzwerke über den Eisernen Vorhang hinweg zu installieren.
Die Reaktion des sowjetischen Staates ließ nicht lange auf sich warten: Die Erstunterzeichner der Gründungserklärung sahen sich bald erheblichen Repressionen ausgesetzt. Diese umfassten die Inhaftierung ebenso wie die Zwangsemigration und die Unterwanderung der Gruppe durch den KGB. 1982 musste sich die Moskauer Helsinki-Gruppe aufgrund der massiven Verfolgung auflösen und ihre Tätigkeit einstellen. Erst Gorbatschows Perestrojka ermöglichte es Andersdenkenden, das Monitoring-Konzept wieder aufzunehmen und die Helsinki-Gruppe 1989 neu zu gründen, die seit 1993 bis heute als eingetragene Organisation existiert. Zur Zeit wird die Gruppe wieder von der Erstunterzeichnerin Ljudmilla Alexejewa geleitet, die 1977 wegen ihres Engagements zur Ausreise aus der Sowjetunion gezwungen wurde und ins neue Russland zurückgekehrt war. Die Einsprüche der mittlerweile 87-jährigen grande dame der russischen Menschenrechtsarbeit und die Arbeit ihrer Gruppe scheinen in einer Gegenwart, in der sich die gesellschaftliche und kulturelle Opposition in Russland massivem politischem Druck ausgesetzt sieht und NGOs als „ausländische Agenten“ diffamiert werden, aktueller denn je.
Lesetipps:
Snyder, Sarah B.: Human Rights Activism and the End of the Cold War. A Transnational History of the Helsinki Network. Cambridge 2013.
Orlow, Jurij: Ein russisches Leben, München/Wien 1992.
Paul Sprute (zusammen mit Julia Kröner, Nicolas Leube, Konstantin Möhring, Aleksandra Pure, Johanna Schmidt, Anja Schwick). Studentisches Projekt im Rahmen des Archivkurses „Menschenrechte und Ost-West-Kommunikation im Kalten Krieg“ unter der Leitung von Manuela Putz.
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