Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Maike Lehmann (Bremen)
Kul‘turnost‘ and Non/Belonging in the Late Soviet Union
(65% der vollen Wochenarbeitszeit, Entgeltgruppe 13 TV-L)
ab dem 01. Januar 2025 befristet für 3 Jahre. Bewerbungsfrist: 31.10.2024
Diskussion: Was ist „Osteuropa“? Geschichte und Gegenwart eines widersprüchlichen Konzepts
19 Uhr, Bibliothek der Weserburg Museum für moderne Kunst
Anastasia Tikhomirova, Hans-Christian Petersen, Artur Weigandt, Klaas Anders
Ukrainische Schriftsteller*innen in Zeiten des Krieges
18:00 Uhr, Europapunkt Bremen
Oxana Matiychuk, Susanne Schattenberg
Wissenswertes
Egon Bondy’s Happy Hearts Club Banned
Vor 40 Jahren provozierte der Prozess gegen Mitglieder der Rock-Band „Plastic People of the Universe“ und anderer Vertreter des musikalischen Underground den Beginn einer zivilgesellschaftlichen Protestkultur in der Tschechoslowakei, die in der Charta 77 gipfelte
Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Bremen, FSO 2-042
Das für September 1976 anberaumte „Gerichtsverfahren gegen den tschechischen Underground“ wurde, wie der nonkonforme Dramatiker, spätere Staatspräsident und damalige Prozessbeobachter Václav Havel rückblickend in einem Gespräch mit Karel Hvížďala formulierte, schon früh wahrgenommen als „Angriff des totalitären Systems auf das Leben selbst, auf die menschliche Freiheit und Integrität”. Die „Plastic People of the Universe“ (PPU) wurden in diesem Prozess zu einem Symbol künstlerischer und letztendlich individueller Freiheit, die es – auch und besonders nach dem blocküber- greifenden Bekenntnis zu den Menschenrechten auf der KSZE-Abschlusskonferenz im Jahr 1975 – für alle Ausdrucksformen zu verteidigen galt.
Als alternative Rock-Band mit Einflüssen vor allem von Velvet Underground, Frank Zappa und mit starken psychedelischen Elementen wurden PPU nach ihrer Gründung 1968 schnell Teil des sich etablierenden musikalischen Underground, der eine Lebensform jenseits sozialistischer Normen und Ästhetiken vertrat. Nachdem der Band 1970 die staatliche Unterstützung und damit auch Probenräume, Musikinstrumente und Finanzierung entzogen worden waren, spielten PPU zunehmend inoffizielle Konzerte, unter anderem bei privaten Feiern. Auch Václav Havel stellte dieser und anderen Bands aus dem tschechischen Underground die „Rock-Scheune“ seines Landhauses im Riesengebirge als Auftrittsort zur Verfügung. Auf einem dieser illegalen und improvisierten Konzerte, zu denen per Mundpropaganda eingeladen wurde, ist im Jahr 1978 auch das Foto von Ivan Kyncl entstanden. Das Foto, das sich kaum auf Details richtet und vor allem die Atmosphäre in der Scheune einfängt, zeigt ein großenteils junges, eng gedrängtes Publikum in dicken Jacken, teilweise in Decken gehüllt und rauchend, redend, lachend. Dies Archivale des Monats ist nur eins von insgesamt 20.000 Negativen, die im Teilnachlass des Fotografen Ivan Kyncl zur tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung der 1970er Jahre an der Forschungsstelle Osteuropa zu finden sind.
Der Prozess, der mit der Verurteilung von vier Angeklagten zu bis zu 18 Monaten Haft endete, brachte auf den Korridoren des Gerichtsgebäudes unterschiedlichste Gruppierungen zusammen, die bisher untereinander keine oder kaum Berührungspunkte hatten: Underground-Sympathisanten trafen auf Philosophen und Theaterleute, Schriftsteller und Künstler. Václav Havel beschrieb in seinem Essay „Der Prozess“ diese „very special, improvised community“, in der – äußerst ungewöhnlich – für die Dauer des Prozesses über Generationen und soziale Gruppen hinweg eine offene Diskussionsatmosphäre entstand. Der Essay, auf Schreibmaschinen vervielfältigt, vielfach verteilt und schließlich auch in einer Kopie im Archiv der FSO verwahrt, erhielt große Bekanntheit im Samizdat und erhöhte somit die Sichtbarkeit dieses Prozesses.
Foto: Fabian Winkler Fotografie. Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Bremen
Die übergreifende Sympathie- und Unterstützungsbekundung für die alternative Musikszene mit den PPU als Aushängeschild gab letztendlich den Anstoß für die Gründung der Charta 77 – einem Netzwerk von Unterstützern jedweder politischer Couleur, das sich für die Einhaltung der Menschen- und Bürgerrechte in der Tschechoslowakei einsetzte. Die Veröffentlichung der Charta 77 im Januar 1977 führte zu den bisher härtesten Verfolgungen gegen Andersdenkende und Dissidenten. Vor allem aber führte sie zu einer Politisierung, Internationalisierung und Vernetzung der Dissidenten im In- und Ausland, deren Einfluss noch in der „Samtenen Revolution“ von 1989 spürbar war.
Lesetipps:
Jonathan Bolton: Charter 77, the Plastic People of the Universe, and Czech culture under communism, Cambridge, Mass. 2012.
Heidrun Hamersky: Störbilder einer Diktatur. Zur subversiven fotografischen Praxis Ivan Kyncls im Kontext der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung der 1970er Jahre, Stuttgart 2015.
Heidrun Hamersky, Ulrike Huhn, Susanne Schattenberg (Hg.): Ivan Kyncl: Rebellion mit der Kamera. Vom Bildchronisten der Bürgerrechtsbewegung in der ČSSR zum Fotografen der britischen Bühnen, Bielefeld 2014.
Václav Havel: Fernverhör. Ein Gespräch mit Karel Hvížďala, Reinbek bei Hamburg 1987.
Václav Havel: The Trial (October 1976), in: Drs.: Open Letters, London-Boston 1992, 102-108.
Hörtipp:
Plastic People of the Universe: Egon Bondy's Happy Hearts Club Banned (1977, Boží Mlýn).
Sarah Lemmen
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