Film und Gespräch: Heller Weg
19:00 Uhr, Kulturwerkstatt Westend
Mit Regisseurin Iryna Riabenka, moderiert von Oksana Chorna
Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Natalia Fedorenko (Bremen)
Coming of Age in the Urals in the Early 1960s: Ideals and Perspektives of the Middle Class. The Story of Anna Tarshis
Wissenswertes
Das Öffentliche im Privaten. Bilder eines Begräbnisses.
Zum 80. Geburtstag des 2011 verstorbenen Politikers, Autors und Dissidenten Václav Havel
Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Bremen, FSO 2-042 59
Von den vielen Fotografien, auf denen Václav Havel zu sehen ist, gehören die vom Begräbnis seines Vaters zu den Bekanntesten. Sie gehören zu einem Konvolut von etwa 17.000 Negativen, die im Archiv der Forschungsstelle Osteuropa lagern. Der 2011 verstorbene Politiker, Autor und Dissident gehört in Deutschland und den USA zu den bekanntesten Tschechen. In Tschechien selbst allerdings ist er seit Jahren äußerst umstritten. In den Kontroversen wird dabei nicht nur seine Politik thematisiert, sondern stets auch seine Persönlichkeit: von liebenswert und klug über ungeschickt im Umgang mit der Öffentlichkeit bis hin zu rücksichtslos und egoistisch ist hier ein sehr breites Spektrum vertreten.
Abgesehen von den sehr unterschiedlichen Bewertungen Václav Havels zeigen diese Kontroversen auch, wie eng Privates und Politisches miteinander verwoben waren und sind, insbesondere mit Blick auf die Dissidentenbewegung der 1970er und 1980er Jahre. Auf bezeichnende, dramatische und berührende Weise wird diese Verflechtung auf Fotografien deutlich, die Ivan Kyncl beim Begräbnis des Vaters Václav Havels anfertigte. Václav Havel befand sich zum Zeitpunkt des Todes seines Vaters in Untersuchungshaft, nachdem er nicht nur den Essay „Die Macht der Ohnmächtigen“ im Samizdat publiziert, sondern auch den Ausschuss VONS (zur Verteidigung unrechtmäßig Verfolgter) mitbegründet hatte. Die Staatssicherheit gestand ihm zu, am Begräbnis seines Vaters teilzunehmen, und erlaubte ihm sogar, dies in einem dunklen Anzug (und nicht in Häftlingskleidung) zu tun. Ein solches Entgegenkommen war unerwartet und einmalig, und die Besucher des Begräbnisses konnten sich nicht entscheidend zwischen Erleichterung und Misstrauen: Würde man Havel nun psychologisch unter Druck setzen oder zeigte die Staatssicherheit tatsächlich menschliche Züge?
Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Bremen, FSO 2-042 60
Die Fotografien sind ebenfalls von sehr ambivalentem Charakter und bilden eine privat bestimmte Atmosphäre der Trauer ab: Havel sitzt zwischen seiner Ehefrau und seinem Bruder und lauscht der Trauerrede, er schüttelt Hände und empfängt Kondolenzwünsche. Beamte der Staatssicherheit sind nicht zu sehen, obwohl das Beobachten der Beobachter sonst zu Kyncls präferierten Perspektiven gehörte. Andererseits sind die Bilder hochpolitisch. Es ist Václav Havel jr., der im Zentrum steht, während sein Bruder eine Position in zweiter Reihe einnimmt. Die Blicke der Personen ebenso wie die Schärfeeinstellung der Kamera richten sich auf Havel. Dass jede Fotografie auch in der Rezeption durch den Betrachter eine eigene Aussage erhält, kommt noch hinzu: Es ist auch unser Wissen um die große politische Bedeutung Václav Havels, das die Fotografien im Nachhinein prägt. Auf der Fotografie Nr.2, die den Handschlag Jan Rumls mit Havel zeigt, tritt Havel gar aus der Position des privat Trauernden heraus, indem er in die Kamera schaut: ein Politiker, der in einer eigentlich privaten Situation beobachtet wird.
Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Bremen, FSO 2-042-61
Die tschechische Dissidentengemeinde war klein und überschaubar, man duzte sich und sprach sich oft mit Diminutiven an (z.B „Vašek“ für Václav), man unterstützte einander, stritt aber auch häufig, und selbstverständlich ging man zu Begräbnissen von Familienangehörigen. „Privat“ konnten solche Ereignisse in diesen Strukturen nicht bleiben: nicht nur, weil Begräbnisse spätestens seit der Trauerfeier für Jan Palach 1969 und der Beerdigung Jan Patočkas 1977 zu Gelegenheiten für politischen Protest geworden waren. Bei solchen Treffen zeigte sich auch das enge Verhältnis von Persönlichem und Politischem, und sowohl die Staatssicherheit als auch der Fotograf Ivan Kyncl beobachteten und nutzten die Ambivalenz der Situation: zur Observation und Dokumentation. Vor dem Zugriff der Staatssicherheit retten konnte Kyncl seine Aufnahmen nur durch einen – bewährten – Trick: Beim Hinausgehen und vor der erwarteten Kontrolle durch die Agenten hatte er den Film in der Kamera längst ausgetauscht.
Lesetipps
Heidrun Hamersky: Störbilder einer Diktatur. Zur subversiven fotografischen Praxis Ivan Kyncls im Kontext der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung der 1970er Jahre, Stuttgart 2015.
Vaculík, Ludvík: Tagträume. Alle Tage eines Jahres, Hamburg 1981
Michael Žantovský: Václav Havel. In der Wahrheit leben, Berlin 2014
Martina Winkler
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