Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Vitalij Fastovskij (Münster)
Wie man ein humanitäres Imperium aufbaut: Die Tolstoy Foundation im Kalten Krieg
Diskussion: "1000 Tage Krieg in der Ukraine - wie weiter?"
18:00 Uhr, Europapunkt Bremen
Mattia Nelles, Eduard Klein, Oksana Chorna, Susanne Schattenberg
Film und Gespräch: Heller Weg
19:00 Uhr, Kulturwerkstatt Westend
Mit Regisseurin Iryna Riabenka, moderiert von Oksana Chorna
Wissenswertes
„… die Respektierung der bürgerlichen und menschlichen Rechte in unserem Lande und in der Welt“
Zur Gründung der Bürgerrechtsbewegung Charta 77 vor 40 Jahren in Prag
Foto: Ivan Kyncl, Symbol der Charta 77 am Fensterrahmen eines Prager Brückenturms, FSO f. 02-42
Die Gründung der Charta 77 begann mit einer Verfolgungsjagd. Am Morgen des 6. Januar 1977 holte der Schauspieler Pavel Landovský die Schriftsteller Václav Havel und Ludvík Vaculík mit seinem Auto ab, die als Kuriere für eine brisante Fracht fungieren sollten. Nachdem im September 1976 ein Gerichtsverfahren gegen Personen aus dem musikalischen Underground um die Rock-Gruppe „Plastic People of the Universe“ (siehe Archivale des Monats 9/2016) eröffnet worden war, das im klaren Verstoß gegen die in der Tschechoslowakei ratifizierten Bürgerrechte stand, formierte sich Widerstand. Eine Gruppe von Oppositionellen verfasste ein Manifest gegen eine solche staatliche Missachtung bestehender Gesetze, das schließlich als Gründungsdokument der Bürgerrechtsbewegung Charta 77 in die Geschichte eingehen sollte. Mit 242 Unterschriften versehen, sollte das Dokument an die tschechoslowakische Regierung und an das Parlament verschickt werden. Dieses erste Dokument der Charta 77 befindet sich als Abschrift sowohl auf Tschechisch als auch auf Deutsch im Archivbestand des Historikers und Politologen Michal Reiman an der Forschungsstelle Osteuropa, der zu dem Zeitpunkt bereits seit kurzem in der Bundesrepublik lebte und sich von dort für die Unterstützung der Opposition in der Tschechoslowakei einsetzte.
Die Briefe an diese Adressaten sowie je ein Exemplar an alle 242 Erstunterzeichner hatten die Kuriere dabei, als sie in das Auto stiegen. Waren die gesamten Vorbereitungen bislang ungestört verlaufen, war die Staatssicherheit in der Zwischenzeit hellhörig geworden und nahm nun die Verfolgung auf. Wie Landovský später berichten sollte, versuchte er, die Verfolger abzuschütteln, und raste mit überhöhter Geschwindigkeit bei Glatteis durch Prag. Mit ein paar Minuten Vorsprung im Rücken entdeckte das Trio in einer Seitenstraße einen Briefkasten. Havel sprang aus dem Wagen und warf so viele Briefe wie möglich ein, bevor sie wieder Gas geben mussten, um den Verfolgern zu entkommen. Schließlich wurden sie in einer Einbahnstraße gestellt. Einer nach dem anderen wurde aus dem Auto gezerrt und zum Verhör gefahren – offensichtlich so dramatisch, dass die umstehenden Passanten dachten, Pavel Landovský drehe einen neuen Film.
Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, FSO 02-050
Ihre Adressaten erreichte die Charta 77 dennoch, verstärkt durch den Widerhall in westlichen Medien, die vorab informiert worden waren. Das fünfseitige Dokument verwies auf die Nichtbeachtung der gesetzlich garantierten bürgerlichen Rechte wie das Recht auf Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit oder die Gleichberechtigung vor dem Gesetz. Die Bewegung verstand sich als „freie, unformelle [!] und offene Gemeinschaft von Menschen verschiedener Überzeugung, verschiedenen Glaubens und verschiedener Berufe, die der Wille verbindet, sich einzeln und gemeinsam für die Respektierung der bürgerlichen und menschlichen Rechte in unserem Lande und in der Welt einzusetzen […]“ (Die Erklärung der Charta 77 (deutsche Fassung), S. 4).
Auf diesen Auftakt folgten harte staatliche Repressionen. Auch sollte eine staatlich organisierte „Anticharta“ die breite Öffentlichkeit zu einer Gegenbewegung mobilisieren. Gleichzeitig aber wuchs der Unterstützerkreis der Charta 77 stetig an; bis 1989 stieg die Zahl der Unterschriften auf etwa 2000. Auch auf öffentlichen Plätzen war die Charta 77 präsent, wie ein Foto von Ivan Kyncl belegt (datiert 1977-80). Hier erscheint das von Karel Trinkewitz gestaltete Symbol der Bewegung als Graffiti am Fensterrahmen eines Prager Brückenturms, wo es perspektivisch die Burg – und damit den Sitz der politischen Macht – zu dominieren scheint. Das Foto befindet sich im Archivbestand von Ivan Kyncl, und auch der Nachlass des Erfinders des Charta 77-Logos Karel Trinkewitz befindet sich im Archiv der Forschungsstelle Osteuropa.
Lesetipps:
Bolton, Jonathan: Worlds of Dissent. Charter 77, the Plastic People of the Universe, and Czech Culture under Communism, Cambridge, MA 2012.
Kohout, Pavel: Wo der Hund begraben liegt, München-Hamburg 1987.
Landovský, Pavel: Soukromá vzpoura. Rozhovor s Karlem Hvížďalou, Bonn 1988.
Sarah Lemmen
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