Bibliothek und Archiv für Nutzung geschlossen
Bewerbungsschluss 05.01.2025
20h/Monat ab 1. April 2025; Unterstützung in Forschung und Lehre
Admin, max. 18h / Woche
zum 01.01.2025
Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Kerstin Brückweh (Erkner)
Wohnen und Wohneigentum. Lässt sich aus der Geschichte der Transformation in Ostdeutschland lernen?
20.01.2025 Bewerbungsschluss
03.07.-05.07.2024, Dresden
Buchvorstellung
18:00 Uhr, OEG 3790
"The Making and Unmaking of the Ukrainian Working Class"
mit Dr. Denys Gorbach (Autor) und Prof. Dr. Jeremy Morris (Diskutant)
Wissenswertes
Der „Unheilsbecher“ vom Chodynsker Feld.
Zum 100. Jahrestag der Februarrevolution 1917
Foto: Fabian Winkler Fotografie. Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, FSO 01-223
Was haben die Geschichte und das Wetter miteinander zu tun? Eine ganze Menge! Der Winter 1916/17 war der dritte und kälteste im Ersten Weltkrieg. Er war so kalt, dass in Russland der Eisenbahnverkehr nahezu zum Erliegen kam und die Versorgung der Städte mit Getreide zwischenzeitlich ausfiel. Viele Fabriken mussten ihre Tore schließen, weil sie keinen Nachschub mehr erhielten; Arbeitslose trieben sich auf den Straßen herum. Am 23. Februar 1917 (alte Zeitrechnung, neu: 8. März) stieg die Temperatur in Petrograd auf „frühlingshafte“ fünf Grad unter null: Die Menschen erwachten aus ihrem Winterschlaf, die Frauen machten sich auf, um am Weltfrauentag für Gleichberechtigung und Brot zu demonstrieren, sie riefen: „Brot“ und „Nieder mit dem Zaren“.
Damit begann der Anfang vom Ende des Zarenreichs, das viele abergläubische Russinnen und Russen schon bei der Krönungszeremonie von Nikolaus II. 1896 auf dem Chodynsker Feld bei Moskau erahnt hatten, bei der es zu einer Massenpanik mit mehreren hundert Toten gekommen war. Wie zur Krönung von Kaisern üblich, hatte es für das Volk ein Festessen und Geschenke – z.B. Emaille-Becher mit den Initialen des jungen Zaren – gegeben. Ein solcher Becher von dem Chodynsker Feld aus dem Jahr 1896 ist unser Archivale des Monats.
1917 marschierten die Demonstranten über die zugefrorene Newa – die Brücken waren wohlweislich abgesperrt – zur Duma, dem Parlamentsgebäude, wo die Kosaken vor ihnen zurückwichen. Die Menschenmenge wuchs an den folgenden Tagen auf 200.000 streikende Arbeiter an, denen sich auch Studenten, Ladenbesitzer, Bankangestellte und sogar gut gekleidete Damen und Herren anschlossen; sie kämpften sich den Weg über die Brücken frei und drängten in die Innenstadt auf den Newski-Prospekt. Die Polizei war machtlos. Zar Nikolaus II., der im Hauptquartier der Armee in Smolensk weilte und nur schlecht darüber informiert war, was in seiner Hauptstadt vorging, befahl, die Unruhen mit Waffengewalt niederzuschlagen. Doch was in der Revolution von 1905 noch undenkbar gewesen war, trat jetzt ein: Die Petrograder Garnison meuterte und schloss sich den Protestierenden an. Am 2. März 1917 erklärte Nikolaus den Verzicht auf den Thron zugunsten seines Bruders, der am 3. März verzichtete. Die Dynastie der Romanows war Geschichte, nachdem 1913 noch mit viel Pracht und Prunk das 300jährige Jubiläum begangen worden war.
Foto: Fabian Winkler Fotografie. Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, FSO 01-223
Der „verhängnisvolle“ Emaillebecher befand sich im Besitz des Literaturkritikers und Dostojewski-Experten Ewgeni Alexandrowitsch Wagin (1938-2009). Er war seit 1965 Mitglied der 1964 in Leningrad gegründeten Untergrundorganisation „Allrussische Sozial-Christliche Union zur Befreiung des Volkes“, die sich für einen „dritten“ Weg einsetzte: Statt zum Kommunismus oder Kapitalismus sollte die Sowjetunion auf den Weg des christlichen Glaubens geführt werden. 1967 wurde die gesamte Gruppe verhaftet und verurteilt. Wagin saß acht Jahre lang im Gefängnis und im Lager in Mordwinien, bevor er 1976 nach Italien emigrieren konnte. Von dort erreichte die Forschungsstelle Osteuropa 2009 ein verzweifelter Anruf seiner Witwe: Wagin war gestorben, die Wohnung musste geräumt werden und alle seine Briefe, Tagebücher und Dokumente, die in Plastiksäcken auf dem Balkon lagerten, drohten im Altpapier zu landen. Also fuhr unsere Archivarin nach Italien, um dort alles zu verpacken, und fand unter den Papieren auch den Becher vom Chodynsker Feld.
Wir wissen nicht, wie Wagin in den Besitz des Bechers gelangte, ob er in direkter Linie von seinen Großeltern stammte, die vielleicht bei der Krönung Nikolaus II. dabei waren. Der Becher ist ähnlich wie die Februarrevolution ein Symbol für Euphorie und Gewalt, für Momente in der Geschichte, an denen sich das Blatt wendet, ohne dass man weiß, zu wessen Gunsten. Die russischen Untertanen feierten 1896 ihren neuen Zaren – und viele wurden dabei zu Tode getrampelt. Die große Mehrheit der Petrograder – Arbeiter, Soldaten, Angestellte, Intellektuelle – feierten die Februarrevolution als einen Moment großer Freiheit. Nur ein halbes Jahr später galten sie als Feinde des Oktoberputschs der Bolschewiki und mussten um ihr Leben fürchten.
Lesetipp:
http://vshson.narod.ru/vagin.html
Susanne Schattenberg
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