Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Maike Lehmann (Bremen)
Kul‘turnost‘ and Non/Belonging in the Late Soviet Union
(65% der vollen Wochenarbeitszeit, Entgeltgruppe 13 TV-L)
ab dem 01. Januar 2025 befristet für 3 Jahre. Bewerbungsfrist: 31.10.2024
Diskussion: Was ist „Osteuropa“? Geschichte und Gegenwart eines widersprüchlichen Konzepts
19 Uhr, Bibliothek der Weserburg Museum für moderne Kunst
Anastasia Tikhomirova, Hans-Christian Petersen, Artur Weigandt, Klaas Anders
Ukrainische Schriftsteller*innen in Zeiten des Krieges
18:00 Uhr, Europapunkt Bremen
Oxana Matiychuk, Susanne Schattenberg
Wissenswertes
Keine Kompromisse
Vor 35 Jahren wurde in Breslau die „Kämpfende Solidarność“ gegründet
Die Verhängung des Kriegszustandes am 13. Dezember 1981 setzte dem „Karneval der Solidarność“ ein jähes Ende. Die erste legal existierende, unabhängige Massengewerkschaft des Ostblocks war Geschichte. Es folgten Ausgangssperren und Massenverhaftungen. Erneute Streiks wurden gewaltsam niedergeschlagen. Unter den verbliebenen Aktivist/innen begann eine Diskussion darüber, ob und wie die bisherige Arbeit weitergeführt werden sollte. Abwarten, den Kompromiss suchen, in den Untergrund gehen?
Eine von mehreren Untergrundstrukturen, die nach 1981 aus der Solidarność hervorgingen, war die heute vor 35 Jahren im Juni 1982 in Breslau gegründete „Kämpfende Solidarność“ (Solidarność Walcząca). Von ihr erzählt unser Archivale des Monats Juli. Bild 1 zeigt einen im Selbstverlag herausgegeben Kalender von 1988. Auf ihm ist prominent Kornel Morawiecki zu sehen, die zentrale Gründungsfigur der Solidarność Walcząca. Er und seine Mitstreiter/innen waren unzufrieden mit dem ihrer Meinung nach zu zurückhaltenden Kurs, den die Solidarność nach der Ausrufung des Kriegsrechts eingeschlagen hatte: „Wir glauben nicht an einen Kompromiss mit diesen Machthabern und eine Reform dieses Systems“, heißt es in einem programmatischen Dokument mit dem Titel „Wer sind wir?“ von 1983. In diesem Sinne betrieb die Solidarność Walcząca unter anderem eine illegale Radiostation, gab zahlreiche Pressetitel heraus und rief zu Demonstrationen auf. Bisher wenig bekannt ist auch ihre große Rolle bei der Akquise von Spenden für die Solidarność und andere polnische Oppositionsgruppen im westlichen Ausland. In der Bundesrepublik vertraten Jolanta und Andrzej Wirga die Organisation, die in Mainz das „Solidarność-Informations-Bulletin“ herausgaben und dem Archiv der Forschungsstelle Osteuropa zahlreiche Schriften der Solidarność Walcząca zukommen ließen. So fand auch unser Archivale des Monats seinen Weg nach Bremen.
Foto: Fabian Winkler Fotografie. Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, FSO 02-003
Mit der Organisation von Demonstrationen in der Zeit des Kriegszustandes gelangen der Solidarność Walcząca spektakuläre Aktionen. Ihre Vorstellungen von einer Alternative zum radikal abgelehnten kommunistischen System blieben dabei jedoch vage. Als Ziel galt die Schaffung einer „solidarischen Republik“, die die Interessen des Individuums achtet. Mehr als konkrete politische Schritte stand jedoch, ganz in der Tradition der romantisch inspirierten polnischen Aufstände im 19. und 20. Jahrhundert, der Kampf, der Widerstand an sich im Mittelpunkt. Auf die Frage „Wozu kämpfen?“ heißt es auf einem im Juni 1982 veröffentlichten Flugblatt (Foto 2) folgerichtig: „Um ein Zeichen unserer Würde zu geben. Um zu leben.“ Der historische Bezug auf die polnische Geschichte ist auch auf diesem Flugblatt prominent zu sehen: Es zeigt das Logo der Solidarność Walcząca, ein geschwungenes „SW“ in Form eines Ankers, das sich deutlich an das Erkennungszeichen des Warschauer Aufstands 1944, die Buchstaben PW in Ankerform, anlehnte.
Ihre kompromisslose Linie behielt die Solidarność Walcząca auch im Jahre 1989 bei: Sie lehnte die Verhandlungen mit der Regierung am Runden Tisch ab und rief zum Boykott der dort für Juni 1989 beschlossenen Wahlen auf. Kornel Morawiecki kandidierte in den Folgejahren mehrfach für politische Ämter; seit 2015 sitzt er, gewählt über die rechtspopulistische Liste „Kukiz `15“, von deren Fraktion er sich mittlerweile gelöst hat, im polnischen Parlament. Sein Sohn Mateusz Morawiecki, in jungen Jahren ebenfalls für die Solidarność Walcząca aktiv, ist seit 2015 Wirtschaftsminister.
Während ihre ehemaligen Protagonist/innen heute in der Mehrheit der politischen Rechten zuzuordnen sind, bleibt die historische Solidarność Walcząca schwer fassbar. Auf der einen Seite hat sie sich durch ihre charismatische Führerfigur Kornel Morawiecki und ihren demonstrativen Antikommunismus einen festen Platz in der Erinnerung an die polnische Opposition der 1980er Jahre gesichert. Gleichzeitig ist die Solidarność Walcząca aufgrund ihrer, der Konspiration geschuldeten, unklaren Strukturen und rudimentären Programmatik schwer einzuordnen. Welche Rolle sie beim Zusammenbruch des Realsozialismus in Polen gespielt hat, müssen zukünftige, von aktuellen identitätspolitischen Zielsetzungen möglichst unabhängige Untersuchungen zeigen.
Lesetipps:
Artur Adamski: Kornel. Rozmowa z przewodniczącym Solidarności Walczącej Kornelem Morawieckim, Wysoka 2007.
Łukasz Kamiński/Wojciech Sawicki/Grzegorz Waligóra (Hg.): Solidarność Walcząca w dokumentach, 2 Bände, Warszawa 2007/2016.
Łukasz Kamiński: Solidarność Walcząca, in: Encyklopedia Solidarności [online], http://www.encysol.pl/wiki/Solidarno%C5%9B%C4%87_Walcz%C4%85ca (zuletzt abgerufen am 28.06.2016).
Jacob Nuhn
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