Alexander Ginsburg saß im Herbst 1966 mit seinem Manuskript in der Geheimdienstzentrale. Der Schriftsteller war sich sicher, dass er Juli Daniel und Andrej Sinjawski bei der Sowjetregierung freikaufen könnte. Die Schriftsteller standen vor Gericht, da sie ihre Werke im Ausland unter den Pseudonymen Abram Terz und Nikolaj Arzhak publiziert hatten. Nun sprach Ginsburg mit einem Manuskript seines Weißbuchs beim KGB vor, das in gleicher Weise literarisches Dokument, Waffe eines kleinen Menschen gegen einen allmächtigen Staat und Entblößung des politischen Systems darstellte – ein wohl einmaliger Vorgang in der Geschichte der Weltliteratur.
Ginsburgs „Weißbuch“, unser Archivstück des Monats, ist die einzige sowjetische Samizdat-Publikation ihrer Art. Der aus über 150 Dokumenten bestehende Band war weder für den geheimen Besitz zu Hause, noch zur Ausfuhr ins westliche Ausland bestimmt. Vielmehr entstand er im Kielwasser des Prozesses selbst, der im Februar 1966 in Moskau stattfand. Ein speziell einberufener Expertenrat aus Literaturwissenschaftlern sollte Sinjawski und Daniels Autorenschaft bestätigen. Dieser Prozess – der erste Schauprozess der Nach-Stalin-Ära – deklarierte den Akt der Publikation von belletristischen Texten im Westen an sich schon als „antisowjetische Agitation und Propaganda“.
Das „Weißbuch“ selbst enthält neben Zeitungsausschnitten und Kommentaren westeuropäischer Beobachter Briefe zur Verteidigung der Schriftsteller unter anderem von Freunden und Bekannten, die daraufhin ihre Stellen an Universitäten und Museen verloren, sowie Stenogramme der Verhöre, Zeugenaussagen und des gesamten Prozesses. Neben Stimmen jener, die Sinjawski und Daniel unterstützten, kamen auch Vertreter der offiziellen sowjetischen Presse zu Wort, deren Aussagen in der Zusammenschau entlarvend wirken.
Foto: Fabian Winkler Fotografie. Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, FSO 01-098.
Ginsburg selbst war erst vor kurzen aus der Haft entlassen worden, zu der er für einige Jahre für die Herausgabe des Lyrikbandes „Sintaksis“ verurteilt worden war. Formal wurde ihm Kleinbetrug vorgeworfen, denn man fand heraus, dass er für einen Kommilitonen einen Aufsatz verfasst hatte, um ihm zu einem Diplom zu verhelfen. Faktisch ging es jedoch um Lyrik. Kurz vor seinem Tod im Jahr 2002 sagte Ginsburg, es sei sein „sehnlicher Wunsch“ gewesen, „dass der KGB sich mal von einer menschlichen Seite zeigen würde“.
Ginsburg erkannte das Phantasmagorische und Groteske dieses Prozesses und versammelte einen ganzen Chor von Stimmen, die in diesem Prozess und danach zu Wort kamen. Mit dem Ergebnis vor Augen meinte Ginsburg: „Wenn die vom KGB das lesen, dann werden sie Sinjawski und Daniel sofort befreien, so grotesk, absurd und rechtswidrig war das alles, was vor, während, und nach dem Prozess geschehen war“. So fasste er den Plan, sein Werk sozusagen kommerziell zu nutzen und es, im Tausch gegen die beiden Gefangenen, dem sowjetischen System anzubieten. Er brachte also einige Ausgaben des „Weißbuches“ direkt an die Lubjanka, die Zentrale des KGB in Moskau, und begann zu warten.
Anstelle einer Antwort bekam Ginsburg selbst ein Strafmaß von 5 Jahren Lagerhaft, die er in Mordowien absitzen musste, ehe er Jahre später gegen eine Gruppe sowjetischer Spione aus den USA ausgetauscht wurde. Ein Exemplar des Samizdat-Buchs gelangte nach Deutschland, wo es als Faksimile im Exilverlag „Posev“ auf Deutsch erschien. Das Manuskript des „Weißbuches“ aber blieb als einer der Schätze der Samizdat-Sammlung in der Forschungsstelle Osteuropa Bremen erhalten.
Lesetipps:
Jens Hartmann: Der Erfinder des Samisdat. – Die Welt, 27.07.2002.
https://www.welt.de/print-welt/article402361/Der-Erfinder-des-Samisdat.html
Aleksandr Ginsburg: Weissbuch in Sachen Sinjawskij – Daniel, Frankfurt am Main 1967.
Sergei Kowaljov: Der Flug des weißen Raben. Von Sibirien nach Tschetschenien: Eine Lebensreise, Berlin 1997.
Gasan Gusejnov