Film und Gespräch: Heller Weg
19:00 Uhr, Kulturwerkstatt Westend
Mit Regisseurin Iryna Riabenka, moderiert von Oksana Chorna
Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Natalia Fedorenko (Bremen)
Coming of Age in the Urals in the Early 1960s: Ideals and Perspektives of the Middle Class. The Story of Anna Tarshis
Wissenswertes
Die Zeitachse des Dissens
Zum 50. Jahrestag des Menschenrechtsbulletins „Chronik der laufenden Ereignisse“
Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, FSO 01-185, Chronik der laufenden Ereignisse (Fotoabzüge)
Am 30. April 1968 veröffentlichten Menschenrechtsaktivist/innen in Moskau die erste Ausgabe der „Chronik der laufenden Ereignisse“ im Selbstverlag. Im illegal zusammengestellten Nachrichtenblatt stellte die Redaktion Informationen über Repressionen gegen Andersdenkende zusammen, berichtete über Proteste gegen die Strafverfolgung ihrer Freunde und Bekannten und veröffentlichte Petitionen. Das Heft erschien damals noch unter der Bezeichnung „Das Jahr der Menschenrechte in der Sowjetunion“ und erst später wurde der einer russischsprachigen Sendung von BBC entlehnte Untertitel „Chronik der laufenden Ereignisse“ zum Leitmotiv. Um sich nicht nur inhaltlich, sondern auch formal von der offiziellen Presse zu unterscheiden, achteten die Herausgeber/innen stets darauf, sich streng auf die Wiedergabe von Fakten zu konzentrieren und von ideologischen Interpretationen abzusehen. Mit ihrem Erscheinen nahm das Nachrichtenblatt die Brisanz der Menschenrechtsthematik im Ost-West-Konflikt vorweg und brachte die Hoffnung der Dissidenten zum Ausdruck, mit ihren Anliegen auch außerhalb der Grenzen der Sowjetunion Gehör zu finden.
Wie erfolgreich und gleichzeitig gefährlich ihre Strategie sein sollte, Unrecht zu dokumentieren, erwies sich im kommenden Jahrzehnt. Unser Archivale des Monats zeigt Fotosamizdat der Chronika aus den Jahren 1969 und 1970 sowie gedruckte Exemplare der in Amsterdam ansässigen Alexander Herzen Stiftung aus dem Nachlass des Ökonomen Sergej Pirogov.
Als sich Menschenrechtsfragen in den 1970er Jahren zum Spielball im Kalten Krieg entwickelten, nahm die Zeitschrift im Kampf um Deutungshoheiten eine maßgebliche Rolle ein. Schnell galt die Chronika in Westeuropa und den USA als authentische, hoch zuverlässige Quelle und wurde zum wichtigsten inoffiziellen Informationsorgan über Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion. Während die insgesamt 63 Hefte von diversen (Emigranten-)Verlagen oder Organisationen wie Amnesty International im „Dort-Verlag“ (Tamizdat) reproduziert wurden, verfolgten die sowjetischen Behörden von Beginn an ihre Herstellung und Verbreitung aufs Schärfste. Repressionserfahrungen und die Unterstützung jener, die in Lagern und Gefängnissen inhaftiert waren, prägten den Alltag und das Lebensgefühl sowjetischer Dissident/innen. Die Chronika war dabei ihre Zeitachse und ihr Orientierungspunkt. Mit der sich von Moskau und Leningrad nach Kiew, Tallinn, Novosibirsk oder Odessa erstreckenden Leserschaft zeigt sie die Breite der Bewegung für die Verteidigung von Menschenrechten. Als das Blatt aufgrund der Zerschlagung ihres Redaktionskreises 1973 für kurze Zeit eingestellt werden musste, fühlten sich damalige Protagonisten wie Alexander Daniel aus der Zeit geworfen und empfanden ihr Fehlen „geradezu körperlich“.
Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, FSO 01-185, Chronik der laufenden Ereignisse (gedruckte Fassung)
Die überragende Bedeutung der Chronika für sowjetische Dissidenten spiegelt sich bis heute in ihren Archiven. Die Typoskripte im Nachlass von Sergej Pirogov wurden als alternative Vervielfältigungstechnik nicht erneut auf Schreibmaschine abgetippt, sondern mit dem Fotoapparat aufgenommen und auf Fotopapier in Postkartengröße entwickelt. Ein Satz Abzüge ist mit einer gelben Ringbindung versehen, die nur schwer erhältlich war. Zur fein säuberlichen Aufbewahrung der Bilder fertigte der Besitzer einen Schuber aus Karton an. Ließen sich die Hefte damit besser verstecken oder galt es vielmehr, die Unterlagen bequemer archivieren zu können? Wenngleich die Herkunft der Kopie sowie Zeitpunkt und Ort ihrer Bearbeitung nicht umfassend geklärt sind, lässt die allgemeine Bedeutung der Chronika für den biographischen Werdegang Pirogovs keine Fragen offen. Die Zeitschrift bestimmte sein weiteres Schicksal genauso wie jenes vieler seiner Mitstreiter.
Wie erfolgreich und gleichzeitig gefährlich ihre Strategie sein sollte, Unrecht zu dokumentieren, erwies sich im kommenden Jahrzehnt. Unser Archivale des Monats zeigt Fotosamizdat der Chronika aus den Jahren 1969 und 1970 sowie gedruckte Exemplare der in Amsterdam ansässigen Alexander Herzen Stiftung aus dem Nachlass des Ökonomen Sergej Pirogov.
Als sich Menschenrechtsfragen in den 1970er Jahren zum Spielball im Kalten Krieg entwickelten, nahm die Zeitschrift im Kampf um Deutungshoheiten eine maßgebliche Rolle ein. Schnell galt die Chronika in Westeuropa und den USA als authentische, hoch zuverlässige Quelle und wurde zum wichtigsten inoffiziellen Informationsorgan über Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion. Während die insgesamt 63 Hefte von diversen (Emigranten-)Verlagen oder Organisationen wie Amnesty International im „Dort-Verlag“ (Tamizdat) reproduziert wurden, verfolgten die sowjetischen Behörden von Beginn an ihre Herstellung und Verbreitung aufs Schärfste. Repressionserfahrungen und die Unterstützung jener, die in Lagern und Gefängnissen inhaftiert waren, prägten den Alltag und das Lebensgefühl sowjetischer Dissident/innen. Die Chronika war dabei ihre Zeitachse und ihr Orientierungspunkt. Mit der sich von Moskau und Leningrad nach Kiew, Tallinn, Novosibirsk oder Odessa erstreckenden Leserschaft zeigt sie die Breite der Bewegung für die Verteidigung von Menschenrechten. Als das Blatt aufgrund der Zerschlagung ihres Redaktionskreises 1973 für kurze Zeit eingestellt werden musste, fühlten sich damalige Protagonisten wie Alexander Daniel aus der Zeit geworfen und empfanden ihr Fehlen „geradezu körperlich“.
Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, FSO 01-185, Chronik der laufenden Ereignisse (gedruckte Fassung)
Die überragende Bedeutung der Chronika für sowjetische Dissidenten spiegelt sich bis heute in ihren Archiven. Die Typoskripte im Nachlass von Sergej Pirogov wurden als alternative Vervielfältigungstechnik nicht erneut auf Schreibmaschine abgetippt, sondern mit dem Fotoapparat aufgenommen und auf Fotopapier in Postkartengröße entwickelt. Ein Satz Abzüge ist mit einer gelben Ringbindung versehen, die nur schwer erhältlich war. Zur fein säuberlichen Aufbewahrung der Bilder fertigte der Besitzer einen Schuber aus Karton an. Ließen sich die Hefte damit besser verstecken oder galt es vielmehr, die Unterlagen bequemer archivieren zu können? Wenngleich die Herkunft der Kopie sowie Zeitpunkt und Ort ihrer Bearbeitung nicht umfassend geklärt sind, lässt die allgemeine Bedeutung der Chronika für den biographischen Werdegang Pirogovs keine Fragen offen. Die Zeitschrift bestimmte sein weiteres Schicksal genauso wie jenes vieler seiner Mitstreiter.
Sergej Pirogov wurde 1973 wegen Verbreitung der Chronika verhaftet. Die Fotoabzüge der Chronika und weitere Schriftstücke dienten dem KGB als Beweismittel für seine Verurteilung zu Lagerhaft. Nach seiner Ausreise 1976 nach Westdeutschland fand er schließlich eine Anstellung beim Nachrichtensender Radio Liberty in München. Wie sein mehrere Dutzend Archivkartons umfassender Nachlass bezeugt, blieb Pirogovs Interesse an der Sowjetunion und gesellschaftspolitisch relevanten Themen zeitlebens erhalten. Die Chronika erhielt für ihn nun den Status eines Nachschlagewerks. Er nummerierte die publizierten Ausgaben, versah die Texte mit seinen eigenen Anmerkungen und klebte Einlageblätter aus anderen Heften an für ihn relevante Stellen, um eine Gesamtausgabe der Chronik zu erstellen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion machte Pirogov zudem von seinem Recht auf Akteneinsicht Gebrauch und beantragte die Rückgabe der beschlagnahmten Exemplare. Die Abzüge der Chronika kehrten nun bereits auf legalem Wege aus Archangelsk zu ihrem Besitzer zurück. In ihrer Zusammenschau zeigen die rund dreißig Ausgaben der Zeitschrift im Bestand Pirogov die ganze Bandbreite der unterschiedlichen Materialitäten und Bedeutungen auf, die das Phänomen Samizdat und Tamizdat charakterisierte.
Lesetipps:
Lesetipps:
Gennadij Kuzowkin: „Die Chronik der laufenden Ereignisse“, in: Horch und Guck 4/2008, S. 54-57.
Aleksandr Daniel: Wie freie Menschen. Ursprung und Wurzeln des Dissens in der Sowjetunion, in: Wolfgang Eichwede (Hg.): Samizdat. Alternative Kultur in Zentral- und Osteuropa. Die 60er bis 80er Jahre, Bremen 2000, S. 38-50.
Volltexte der „Chronika“ in russischer Sprache online: http://hts.memo.ru/, in englischer Sprache unter dem Titel „Chronicle of current events“: www.amnesty.org
Manuela Putz
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