Film und Gespräch: Heller Weg
19:00 Uhr, Kulturwerkstatt Westend
Mit Regisseurin Iryna Riabenka, moderiert von Oksana Chorna
Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Natalia Fedorenko (Bremen)
Coming of Age in the Urals in the Early 1960s: Ideals and Perspektives of the Middle Class. The Story of Anna Tarshis
Wissenswertes
Die Schreibmaschine zum Sprechen bringen
Das Exponat aus dem Hause Ajchenwald
Foto: Fabian Winkler Fotografie. Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, FSO, 01-057 museale Artefakte.
„Habent sua fata libelli“ – dass Bücher ihre eigene Geschichte haben, ist allgemein bekannt. Aber es gilt auch für Objekte wie die Schreibmaschine, das im 20. Jahrhundert wohl wichtigste, aber von der mit PC und Smartphones aufgewachsenen Generation schon vergessene Aufschreibesystem. Die abgebildete Rheinmetall-Borsig-Schreibmaschine mit der russischen Tastatur kam ins Bremer Archiv aus dem Hause Jurij Ajchenwalds (1928-1993) und seiner Frau Walerija Gerlin, das seit den 1960er Jahren Treffpunkt vieler Moskauer Intellektueller und Dissidenten gewesen war.
Es liegt nahe, dieses Exemplar Juli Ajchenwald (1872-1928) zuzuordnen, einem der profiliertesten Literaturkritiker des Silbernen Zeitalters, von den Avantgardisten bekämpft und von den Bolschewiki gehasst. Für Trotzki waren seine „Literarischen Silhouetten“ Inbegriff bürgerlichen Literatentums. Kein Zufall, dass sein Name auf der Liste derer auftauchte, die im Herbst 1922 auf dem sogenannten „Philosophendampfer“ ins Exil nach Deutschland verschickt wurden. Ajchenwald blieb eine Koryphäe auch im Russischen Berlin der 20er Jahre, wo er unglücklicherweise 1928 am Kurfürstendamm unter eine Straßenbahn geriet und starb. Ist es nicht seltsam, dass auch Berlioz, eine der Figuren im Roman „Meister und Margarita“, an dem Bulgakow damals arbeitete, unter die Straßenbahn geraten war?
Es liegt nahe, dieses Exemplar Juli Ajchenwald (1872-1928) zuzuordnen, einem der profiliertesten Literaturkritiker des Silbernen Zeitalters, von den Avantgardisten bekämpft und von den Bolschewiki gehasst. Für Trotzki waren seine „Literarischen Silhouetten“ Inbegriff bürgerlichen Literatentums. Kein Zufall, dass sein Name auf der Liste derer auftauchte, die im Herbst 1922 auf dem sogenannten „Philosophendampfer“ ins Exil nach Deutschland verschickt wurden. Ajchenwald blieb eine Koryphäe auch im Russischen Berlin der 20er Jahre, wo er unglücklicherweise 1928 am Kurfürstendamm unter eine Straßenbahn geriet und starb. Ist es nicht seltsam, dass auch Berlioz, eine der Figuren im Roman „Meister und Margarita“, an dem Bulgakow damals arbeitete, unter die Straßenbahn geraten war?
Foto: Fabian Winkler Fotografie. Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, FSO, 01-057 museale Artefakte.
Wir wissen viel über Texte, die auf Schreibmaschinen verfertigt wurden, aber kaum etwas über die Geschichte der Objekte und Apparate, denen wir diese Texte verdanken. Wir wissen nicht, wie die Schreibmaschine „Made in Germany“ nach Moskau gelangt ist – in sowjetischen Zeiten durchaus keine Selbstverständlichkeit. Die Marke „Rheinmetall-Borsig“ gab es in den 20er Jahren, also in den Jahren des Exils von Juli Ajchenwald, noch nicht. Rheinmetall hatte als Folge des Versailler Vertrags seine Rüstungsproduktion einschränken müssen und war zeitweilig auf die Herstellung von Büromaschinen ausgewichen; zur Fusion von Rheinmetall mit Borsig kam es aber erst 1936. Fest steht nur, dass sich die Schreibmaschine zeitweise im Besitz des Sohnes Aleksandr Ajchenwald (1899-1941) befand, eines namhaften marxistischen Ökonomen und „Bucharin-Schülers“, der im Zuge der Stalinschen Säuberungen repressiert und 1941 umgebracht wurde, wie die Familie nach Öffnung der Archive herausfinden konnte.
Wir wissen viel über Texte, die auf Schreibmaschinen verfertigt wurden, aber kaum etwas über die Geschichte der Objekte und Apparate, denen wir diese Texte verdanken. Wir wissen nicht, wie die Schreibmaschine „Made in Germany“ nach Moskau gelangt ist – in sowjetischen Zeiten durchaus keine Selbstverständlichkeit. Die Marke „Rheinmetall-Borsig“ gab es in den 20er Jahren, also in den Jahren des Exils von Juli Ajchenwald, noch nicht. Rheinmetall hatte als Folge des Versailler Vertrags seine Rüstungsproduktion einschränken müssen und war zeitweilig auf die Herstellung von Büromaschinen ausgewichen; zur Fusion von Rheinmetall mit Borsig kam es aber erst 1936. Fest steht nur, dass sich die Schreibmaschine zeitweise im Besitz des Sohnes Aleksandr Ajchenwald (1899-1941) befand, eines namhaften marxistischen Ökonomen und „Bucharin-Schülers“, der im Zuge der Stalinschen Säuberungen repressiert und 1941 umgebracht wurde, wie die Familie nach Öffnung der Archive herausfinden konnte.
Wie eine Schreibmaschine deutscher Herstellung in den 1930er Jahren nach Moskau gelangen konnte, wäre eine Geschichte, die uns heute allein die Schreibmaschine, könnte sie zum Sprechen gebracht werden, erzählen könnte. Schreibmaschinen waren kostbar – wer in der ehemaligen Sowjetunion erinnert sich nicht an die Modelle Erika, Made in GDR, ohne die man in der Vor-Computer-Zeit nicht auskam! Und wer wüsste nicht, dass Schreibmaschinen immer das besondere Augenmerk von KGB-Informanten auf sich gezogen haben. Die ersten unabhängigen Bücher der Generation der 1960er wurden auf Schreibmaschinen produziert, sie sind heute Rarissima des Vor-Gutenberg-Zeitalters, in das die Sowjetunion zurückgefallen war. Bücher, Zeitschriften, „Chronik der laufenden Ereignisse“, hergestellt in mühseliger Tipparbeit, mit bis zu sechs Durchschlägen und per Hand illustriert. Schreibmaschinen konnten verräterisch sein, wenn der Abdruck, den die Lettern hinterließen, vom KGB identifiziert wurden und den Eigentümer wenn schon nicht Kopf und Kragen kosten, so doch eine Menge Unannehmlichkeiten bereiten konnten. Für das 19. Jahrhundert hatte noch gegolten: die Schreibfeder als Waffe. Im 20. Jahrhundert war es die Schreibmaschine, die zur Waffe der zum Schweigen Verurteilten wurde. Ohne Schreibmaschinen kein Samizdat, ohne den Vervielfältigungseffekt der Schreibmaschinen kein literarischer Untergrund, ohne Schreibmaschine nicht der Beginn einer Gegenöffentlichkeit, die auch das Ende der sowjetischen Welt mitvorbereiten half.
Lesetipps:
Wolfgang Eichwede (Hg.): Samizdat. Alternative Kultur in Zentral-und Osteuropa. Die 60er bis 80er Jahre, Bremen 2000.
Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985.
Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985.
Karl Schlögel
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