Film und Gespräch: Heller Weg
19:00 Uhr, Kulturwerkstatt Westend
Mit Regisseurin Iryna Riabenka, moderiert von Oksana Chorna
Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Natalia Fedorenko (Bremen)
Coming of Age in the Urals in the Early 1960s: Ideals and Perspektives of the Middle Class. The Story of Anna Tarshis
Wissenswertes
In Opposition zur Opposition
Junge Anarchist*innen zu den Streiks in Polen 1988 und den Verhandlungen am Runden Tisch
Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, FSO, 02-003.
„Es bleibt noch die Frage“, schließt im Herbst 1988 ein kurzer Artikel der Zeitschrift „Homek“, unserer Archivale des Monats September, „wollen wir Verantwortung und ehrliche Arbeit, oder ziehen wir es vor, darauf zu warten, was die „Kommune“ oder die „S“[olidarność] uns gibt?!" Die Zeitschrift wurde von der Danziger neoanarchistischen Gruppe „Bewegung für eine Alternative Gesellschaft“ (Ruch Społeczeństwa Alternatywnego, kurz: RSA) herausgegeben, die sich 1983 gegründet hatte. Sie war Teil einer ganzen Reihe von Gruppen und Bewegungen unterschiedlicher politischer Couleur, die das kommunistische Regime ablehnten – aber auch die ihrer Ansicht nach zu moderat auftretende Solidarność kritisierten. Den „Homek“ erhielt die FSO von Wojciech Chojnacki und dem Ehepaar Andrzej und Jolanta Wirga – wer die Nummer vom September 1988 lieferte, ist nicht mehr bekannt.
Nach einer langen Zeit der Stagnation, die mit der Niederschlagung der Solidarność und der Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember 1981 begonnen hatte, schafften Gruppen wie RSA es wieder, junge Menschen auf die Straße zu bringen und die Wut auf das Regime und die schlechte ökonomische Lage in politisches Engagement umzumünzen. Im Frühjahr 1988 standen sie und damit eine neue Generation von Aktivist*innen im Zentrum der ersten landesweiten Streikwelle seit 1981. Diese traf das Regime in einer schwierigen Lage: Der Realsozialismus polnischer Prägung befand sich im Sommer 1988 in einer tiefen, existentiellen Krise. Im August folgte eine zweite Streikwelle. Angesichts der dramatischen ökonomischen Lage und Meinungsumfragen, die neue Proteste voraussagten, zeigte sich die kommunistische Regierung vorsichtig verhandlungsbereit. Man einigte sich mit der Solidarność auf Gespräche am Runden Tisch; Solidarność-Führer Lech Wałęsa beschloss am 31.8.1988, die Streiks abzubrechen.
Nach einer langen Zeit der Stagnation, die mit der Niederschlagung der Solidarność und der Ausrufung des Kriegsrechts im Dezember 1981 begonnen hatte, schafften Gruppen wie RSA es wieder, junge Menschen auf die Straße zu bringen und die Wut auf das Regime und die schlechte ökonomische Lage in politisches Engagement umzumünzen. Im Frühjahr 1988 standen sie und damit eine neue Generation von Aktivist*innen im Zentrum der ersten landesweiten Streikwelle seit 1981. Diese traf das Regime in einer schwierigen Lage: Der Realsozialismus polnischer Prägung befand sich im Sommer 1988 in einer tiefen, existentiellen Krise. Im August folgte eine zweite Streikwelle. Angesichts der dramatischen ökonomischen Lage und Meinungsumfragen, die neue Proteste voraussagten, zeigte sich die kommunistische Regierung vorsichtig verhandlungsbereit. Man einigte sich mit der Solidarność auf Gespräche am Runden Tisch; Solidarność-Führer Lech Wałęsa beschloss am 31.8.1988, die Streiks abzubrechen.
Quelle: Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, FSO, 02-003.
Ältere Oppositionelle wie Wałęsa, Bronisław Geremek und Adam Michnik sahen in den Gesprächen die Chance auf einen schrittweisen Demokratisierungsprozess. Doch in der Danziger Leninwerft wurde Wałęsa für die Entscheidung ausgepfiffen. Die jungen Oppositionellen wollten einen radikalen Bruch mit dem System und revolutionären Widerstand, keine Verhandlungen und Kompromisse mit den Machthabern. Darüber bestand Einigkeit – die Vorstellungen darüber, wie ein Polen nach dem Ende des Kommunismus aussehen sollte, gingen aber weit auseinander. Nationalistische Gruppen lehnten das Regime als „Fremdherrschaft“ und Verhandlungen mit der Regierung als „Verrat“ am polnischen „Volk“ ab.
Gruppen wie RSA waren dagegen inspiriert von Ideen aus der antiautoritären Gegenkultur Westeuropas und von Klassikern des Anarchismus wie Bakunin. RSA brachte neue Ästhetiken und Protestformen in die breite Oppositionslandschaft, aber vor allem auch neue Inhalte und Perspektiven: Sie protestierten für Basisdemokratie, gegen Umweltzerstörungen und Militarismus, forderten junge Männer zur Kriegsdienstverweigerung auf und wandten sich gegen eine uniforme Gesellschaft, wie in dem Cartoon auf Abbildung 2 deutlich wird. „Lass dich nicht normalisieren“ steht über den schemenhaft angedeuteten Figuren, die den Militärdienst als Verwandlung von Individuen in uniforme Maschinenmenschen im Dienste des Staates zeigen. Darüber war ein Text angeordnet, der Tipps zur Kriegsdienstverweigerung gab.
In Polen wurde seit 1989 immer wieder über eine Bewertung des Runden Tischs gestritten. Vor allem in rechtskonservativen Kreisen gilt der dabei ausgehandelte schrittweise Machtwechsel als „Verrat“ und „Verschwörung“. Erklärtes Ziel der seit 2015 amtierenden Partei „Recht und Gerechtigkeit“ ist es, den dabei „versäumten“ radikalen Bruch mit dem System nun endgültig zu vollziehen. Doch das Beispiel unseres Archivale zeigt, dass die Zustimmung zu Verhandlungen mit der Regierung auch in linken bzw. antiautoritären Kreisen umstritten war. Dort werden die Solidarność und die mit dem Runden Tisch eingeleitete Transformation seitdem ebenfalls als vertane Chance diskutiert. Vergeben wurde aus dieser Perspektive jedoch nicht die Gelegenheit einer radikalen Abrechnung mit den Kommunisten, sondern die Chance auf eine basisdemokratische und sozial gerechte Gesellschaft.
Gruppen wie RSA waren dagegen inspiriert von Ideen aus der antiautoritären Gegenkultur Westeuropas und von Klassikern des Anarchismus wie Bakunin. RSA brachte neue Ästhetiken und Protestformen in die breite Oppositionslandschaft, aber vor allem auch neue Inhalte und Perspektiven: Sie protestierten für Basisdemokratie, gegen Umweltzerstörungen und Militarismus, forderten junge Männer zur Kriegsdienstverweigerung auf und wandten sich gegen eine uniforme Gesellschaft, wie in dem Cartoon auf Abbildung 2 deutlich wird. „Lass dich nicht normalisieren“ steht über den schemenhaft angedeuteten Figuren, die den Militärdienst als Verwandlung von Individuen in uniforme Maschinenmenschen im Dienste des Staates zeigen. Darüber war ein Text angeordnet, der Tipps zur Kriegsdienstverweigerung gab.
In Polen wurde seit 1989 immer wieder über eine Bewertung des Runden Tischs gestritten. Vor allem in rechtskonservativen Kreisen gilt der dabei ausgehandelte schrittweise Machtwechsel als „Verrat“ und „Verschwörung“. Erklärtes Ziel der seit 2015 amtierenden Partei „Recht und Gerechtigkeit“ ist es, den dabei „versäumten“ radikalen Bruch mit dem System nun endgültig zu vollziehen. Doch das Beispiel unseres Archivale zeigt, dass die Zustimmung zu Verhandlungen mit der Regierung auch in linken bzw. antiautoritären Kreisen umstritten war. Dort werden die Solidarność und die mit dem Runden Tisch eingeleitete Transformation seitdem ebenfalls als vertane Chance diskutiert. Vergeben wurde aus dieser Perspektive jedoch nicht die Gelegenheit einer radikalen Abrechnung mit den Kommunisten, sondern die Chance auf eine basisdemokratische und sozial gerechte Gesellschaft.
Maciej Gdula: Gdula: Kto przepędzi ducha tego stołu?, in: Krytyka Polityczna [online], http://krytykapolityczna.pl/kraj/gdula-kto-przepedzi-ducha-tego-stolu/ (Stand: 27.07.2018).
Padraic Kenney: A Carnival of Revolution - Central Europe 1989, Princeton 2002.
Jan Skórzyński: Krótka historia Solidarności. 1980-1989, Gdańsk 2014.
Marek Wierzbicki: The Alternative Society Movement (RSA) against a Background of Other Youth Formations of Political Opposition in the Polish People's Republic (PRL) in the 1980s, in: Rocznik Instytutu Europy Środkowo-Wschodniej 14 (2016), H. 5, S. 317-336. Online unter: http://www.iesw.lublin.pl/rocznik/articles/RIESW_1732-1395_14-5-288.pdf (Stand: 20.08.2018)
Jacob Nuhn
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