Film und Gespräch: Heller Weg
19:00 Uhr, Kulturwerkstatt Westend
Mit Regisseurin Iryna Riabenka, moderiert von Oksana Chorna
Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Natalia Fedorenko (Bremen)
Coming of Age in the Urals in the Early 1960s: Ideals and Perspektives of the Middle Class. The Story of Anna Tarshis
Wissenswertes
Kunst ad marginem
Zur Gründung der Samizdat-Zeitschrift „Transponans“ vor 40 Jahren
Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, FSO 01-066 (MANI), "Transponans" Nr. 31.
„Dichtung kann man zerknüllen, verbrennen, zertrampeln, zerschneiden, zerreißen, dividieren und multiplizieren, binden und weben, zerkratzen und sammeln, in einen Sack legen und auf den Schuhsohlen abdrucken…“ Dieses radikale Statement von Ry Nikonova und Sergej Sigej beschreibt nicht unterschiedliche Arten der Vernichtung von Kunst, sondern folgt jener Fliehkraft, die am Anfang des 20. Jahrhunderts zum Triebwerk der revolutionären historischen Avantgarde geworden war. Mehr als ein halbes Jahrhundert später wird in der tiefen sowjetischen Provinz, in der Stadt Jejsk am Asowschen Meer, die Avantgarde wiederbelebt, aber nicht mehr im Dienste einer sozialen, sondern einer ästhetischen Utopie. Mit der Ausweitung der literarischen Arbeit auf Gebiete am Rand oder gar außerhalb traditioneller poetischer Techniken setzten die Transpoeten – so nannte sich die Gruppe, aus deren programmatischem Text „Anstelle eines Manifests“ (1983) das obige Zitat stammt – ganz neue Akzente in der experimentellen Kunst. Mit ihrer beispiellosen Kreativität gelang es ihnen in der ersten Hälfte der 1980er Jahre, viele Künstler der spätsowjetischen Neoavantgarde rund um die Samisdat-Zeitschrift „Transponans“ zu vereinen. Unser Archivstück des Monats erinnert mit einer Seite aus dieser Zeitschrift an ihre Gründung Ende 1978.
Die Gründer und Theoretiker der Gruppe, das Ehepaar Ry Nikonova und Sergej Sigej (Pseudonyme von Anna Tarschis und Sergej Sigow), sind auf dem Foto in der unteren Hälfte des Bildes zu sehen. Die Unterschrift auf dem Bild lautet: „Pneumatisches Duett mit phonetischen Marginalien, 1983/1984“. Das Wort Inspiration wird hier in seiner unmittelbaren Bedeutung genommen. Die Wörter „Atem“ (dychanie) und „Geist“ (duch) liegen im Russischen viel näher beieinander als im Deutschen, und die beiden Künstler bringen hier die Buchstaben zum Klingen durch bloßes Atmen.
Selbstverständlich erfordert ein solches Duett das vorherige Präparieren speziell dafür gefertigter Bücher. Der Nachlass der 2014 verstorbenen Künstler, der zu einem großen Teil im Archiv der FSO aufbewahrt wird, beinhaltet hunderte Künstlerbücher, die, wie hier, durch Blasen oder auch durch Werfen, Trinken, Schütteln und, natürlich, ganz konventionell, durch Lesen und Betrachten zum Einsatz kommen. Im Falle des pneumatischen Duetts haben wir es zudem mit einem visuellen Text zu tun, da Marginalien hier nicht als Aufschriften auf den Seitenrändern verstanden wurden, sondern, laut dem von Sergej Sigej verfassten „Instrumentarium des Dichters“ (1981), „die Buchstaben, erweitert durch Zeichnungen, die diese Buchstaben zur Explosion bringen“, darstellen. Die Verbindung von sprachlichen, visuellen und performativen Komponenten macht die Editionen der marginalen Künstler zu einem echten Gesamtkunstwerk.
Auffällig ist die Form der Zeitschrift selbst. Ausschnitte, keilförmige Einlagen und eine stets wechselnde Ausrichtung des Typoskripts verkörpern unterschiedliche Arten der künstlerischen Intervention. Die in einer Auflage von fünf Exemplaren zwischen 1979 und 1987 entstandenen 36 Bände stechen so nicht nur wegen des Inhalts, sondern auch wegen der Form ins Auge und wurden für Künstler aus Leningrad und Moskau zu einer wichtigen literarischen Plattform. Avantgardistische Gedichte von Gleb Zwel, der in den 1980er Jahren zum aktiven Mitglied der inoffiziellen Künstlerszene Moskaus wurde, füllen hier die gegenüberliegende Seite und verkörpern sowohl die Synthese von Text und Bild als auch den künstlerischen Dialog zwischen der Provinz und beiden Hauptstädten.
Die Tatsache, dass diese Nummer der Zeitschrift im Archiv der FSO nicht aus dem reichen Nachlass von Nikonova und Sigej, sondern aus der Sammlung des Moskauer Archivs für Inoffizielle Kunst (MANI) stammt, zeigt die Bedeutung der beiden Künstler und ihrer Produktion, die mit „Transponans“ am Rande des sowjetischen Imperiums eine wichtige Institution der experimentellen Kunst erschafften.
Lesetipps:
Gudrun Lehmann: Die Transpositionskunst von Ry Nikonova und Sergej Sigej. In: Russian Literature LIX (2006), S. 379-397.
Ilja Kukuj
Gudrun Lehmann: Die Transpositionskunst von Ry Nikonova und Sergej Sigej. In: Russian Literature LIX (2006), S. 379-397.
Serge-Aljosa Stommels, Albert Lemmens (Hg.): Bookwork: Rea Nikonova and Serge Segay. LS Collection Van Abbemuseum, Eindhoven 2016.
Ilja Kukuj
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