Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Maike Lehmann (Bremen)
Kul‘turnost‘ and Non/Belonging in the Late Soviet Union
(65% der vollen Wochenarbeitszeit, Entgeltgruppe 13 TV-L)
ab dem 01. Januar 2025 befristet für 3 Jahre. Bewerbungsfrist: 31.10.2024
Diskussion: Was ist „Osteuropa“? Geschichte und Gegenwart eines widersprüchlichen Konzepts
19 Uhr, Bibliothek der Weserburg Museum für moderne Kunst
Anastasia Tikhomirova, Hans-Christian Petersen, Artur Weigandt, Klaas Anders
Ukrainische Schriftsteller*innen in Zeiten des Krieges
18:00 Uhr, Europapunkt Bremen
Oxana Matiychuk, Susanne Schattenberg
Wissenswertes
Reisen aus der Stadt
Die Dokumentationsbände der Gruppe Kollektive Aktionen
Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, FSO-01-030.069. Bestand von Sabine Hänsgen. Kollektive Aktionen: Losung-1977. Foto: Andrej Abramov. Courtesy of Collective Actions Group.
Am 26. Januar 1977 wurde von der Gruppe Kollektive Aktionen (Kollektiwnyje dejstwija) in der Natur am Stadtrand Moskaus auf einer Anhöhe zwischen Bäumen eine rote Stoffbahn mit einer Beschriftung aus weißen Buchstaben aufgehängt: „Ich beklage mich über nichts, und mir gefällt alles, ungeachtet dessen, dass ich noch nie hier war und nichts über diese Gegend weiß.“ Das Zitat auf dem Losungsbanner stammte aus der Gedichtsammlung Nichts geschieht von Andrej Monastyrskij, der neben Nikita Alexejew, Georgij Kiesewalter und Nikolaj Panitkow zu den Gründungsmitgliedern der Gruppe gehörte.
In dieser Aktion war das Transparent seiner politischen und ideologischen Funktionalität entledigt – zum einen dadurch, dass das Banner aus der Stadt in den Naturraum gebracht wurde, zum anderen durch die Beschriftung mit einem eigenen lyrischen Text in der fernöstlichen Tradition paradoxer Kōan-Sprüche. Die Bedeutungsleere der politischen Formelsprache in der späten Sowjetunion wurde auf diese Weise offengelegt und in eine zenbuddhistisch inspirierte Ästhetik der Leere transzendiert.
Losung-1977 ist eine der frühen Performances der Gruppe Kollektive Aktionen, die den Austausch zwischen Kulturschaffenden aus verschiedenen Bereichen – aus bildender Kunst, Literatur, Musik, Kunsttheorie, Kritik – stimulierten und zur Selbstorganisation einer subkulturellen Kunstszene jenseits des staatlichen Kulturbetriebs beitrugen. Verbindendes Sujet waren die seit 1976 stattfindenden „Reisen aus der Stadt“ („Pojesdki sa gorod“): Die gemeinsame Fahrt einer Gruppe von Teilnehmer*innen führte zumeist in die ländliche Umgebung Moskaus, und häufig stellte ein unberührtes Schneefeld die Bühne für minimale Handlungen dar, die durch ihre Rätselhaftigkeit auf verschiedene mögliche Bedeutungen verwiesen und unterschiedliche Kommentare provozierten
Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, FSO-01-030.069. Bestand von Sabine Hänsgen. Dokumentationsbände der Gruppe Kollektive Aktionen: Reisen aus der Stadt, 1976-1989. Foto: Courtesy of Vadim Zakharov.
Diese Kommentare fanden anschließend Eingang in die Dokumentationsbände der Kollektiven Aktionen, die Beschreibungstexte, Erzählungen von Teilnehmer*innen, theoretische Abhandlungen, Diskussionen, Diagramme und Fotografien enthielten, die durch Videos und Audioaufnahmen ergänzt wurden. Von 1980 bis zum Ende der Sowjetunion erschienen fünf als Schreibmaschinentyposkript herausgegebene, im Stile häuslicher Alben eingebundene, viele Hundert Seiten umfassende Samisdat-Bände der Gruppe, die auch Leser*innen, die nicht an den Aktionen selbst teilgenommen hatten, eine sekundäre Reise durch die verschiedenen Schichten der Dokumentation ermöglichten.
Zu einer Zeit, als Künstlerarchive in der Sowjetunion gefährdet waren, wurden bereits im Entstehungsprozess der Bände Dokumentationsmaterialien zu einzelnen Aktionen und Aktionsserien der Forschungsstelle Osteuropa übergeben. In der Gegenwart wird das Papierkorpus durch die Gruppe um ein im Internet zugängliches digitales Archiv erweitert, das auch die audiovisuellen Aufzeichnungen der Performances einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich macht.
Mit der Einbeziehung der Dokumentation in den Prozess der Ästhetisierung griffen die Kollektiven Aktionen ein Grundproblem des Konzeptualismus auf: das Verhältnis von Kunstwerk und Kommentar. Im Kontext der sowjetischen alternativen Kultur der 1970er Jahre erfuhr die abstrakte, sprachphilosophische Ausrichtung der anglo-amerikanischen Concept-Art eine literarische Erweiterung, die zur Entfaltung unzähliger Geschichten und zu einer Vervielfältigung der kommentierenden Stimmen führte. Die Vielzahl von begleitenden Texten zu den Kollektiven Aktionen sind von Performanceteilnehmer*innen verfasst – darunter eine Reihe bekannter Vertreter des Moskauer Konzeptualismus, die auf der Ebene der Dokumentation zu Figuren einer neuen Art von Literatur wurden. Eine solche multiperspektivische Dokumentation, bei der die kommunikativen Prozesse einer inoffiziellen Kulturszene das Material der Kunst bilden, kann auch heutzutage angesichts einer immer umfassender werdenden Kommerzialisierung der Kunst im globalen Maßstab als Anregung dienen für die Suche nach alternativen künstlerischen Kommunikations- und Kooperationsformen.
Lesetipps:
Online Archive der Kollektiven Aktionen
Marina Gerber: Empty Action. Labour and Free Time in the Art of Collective Actions, Bielefeld 2018.
Yelena Kalinsky (Hg.): Collective Actions: Audience Recollections from the First Five Years, 1976-1981, Chicago 2012.
Sylvia Sasse: Texte in Aktion. Sprech- und Sprachakte im Moskauer Konzeptualismus, München 2003.
Sabine Hänsgen
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