Diskussion: "1000 Tage Krieg in der Ukraine - wie weiter?"
18:00 Uhr, Europapunkt Bremen
Mattia Nelles, Eduard Klein, Oksana Chorna, Susanne Schattenberg
Film und Gespräch: Heller Weg
19:00 Uhr, Kulturwerkstatt Westend
Mit Regisseurin Iryna Riabenka, moderiert von Oksana Chorna
Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Natalia Fedorenko (Bremen)
Coming of Age in the Urals in the Early 1960s: Ideals and Perspektives of the Middle Class. The Story of Anna Tarshis
Wissenswertes
„Wehe Westeuropa, wenn seine Ohren taub bleiben.“
Vor 45 Jahren erschien die erste Ausgabe der Zeitschrift KontinentArchiv/Bibliothek der Forschungsstelle Osteuropa. Foto: Maria Klassen.
Selten hat eine Zeitschrift bei ihrer Gründung so viele Wellen geschlagen wie Kontinent. 1974 von exilierten sowjetischen Intellektuellen in Paris gegründet, sollte sie eine Plattform bieten für unabhängige osteuropäische Schriftsteller und Publizisten, die dem „aggressiven Totalitarismus die schöpferische Kraft der Literatur und des Geistes Osteuropas“ entgegensetzen wollten. Das Projekt sollte so inklusiv sein, wie es seine globale Agenda definierte. Dezidiert sollte es keine reine Veranstaltung sowjetischer Exilautoren werden, sondern Autoren aus allen osteuropäischen Staaten mit unterschiedlichen politischen, ästhetischen wie religiösen Standpunkten zusammenbringen. Zugleich sollte sie dem Austausch mit dem Westen dienen. Letzteres bringt auch ihre mehrsprachige Publikation zum Ausdruck. Finanziert durch Axel Springer erschien die Zeitschrift zunächst auf Russisch und Deutsch; wenig später kam eine englische Ausgabe hinzu sowie, zwischenzeitlich, eine norwegische.
Aufmerksamkeit erhielt Kontinent nicht zuletzt deshalb, weil kurz zuvor Alexander Solschenizyn wegen der Publikation seines Archipel GULag im Westen aus der Sowjetunion ausgewiesen worden war. Der Archipel wurde nicht nur ein weltweiter Bestseller, sondern verschärfte mit seiner Dokumentation der stalinistischen Verbrechen die Legitimationskrise des französischen Sozialismus erheblich. Im allgemeinen Medienrummel um seine Person adelte Solschenizyn Kontinent mit einem Geleitwort, in dem er die Zeitschrift als wahre Stimme Osteuropas pries. Bedeutungsschwanger mahnte er zudem: „Wehe Westeuropa, wenn seine Ohren taub bleiben.“ Dass der Westen durchaus willig war, die Stimme osteuropäischer Dissidenten zu hören, verdeutlicht das Geleitwort des französischen Dramatikers Eugène Ionesco, der angesichts der Krise der französischen Linken die osteuropäischen Dissidenten zu Helden und neuen Orientierungsgrößen deklarierte.
Das Interesse an dem, was diese ‚Helden‘ zu sagen hatten, spiegelt sich nicht nur in Ionescos hoffnungsvoller Lobpreisung oder in der regen Nachfrage nach Kontinent – die Erstauflage von 30.000 Exemplaren war in wenigen Tagen vergriffen. Aufmerksamkeit erhielt Kontinent auch durch die vehemente Kritik von westdeutscher Seite. So forderte Günther Grass in der Zeit von Solschenizyn und der Redaktion, sich Axel Springers als Sponsor ihrer Tätigkeiten zu entledigen. Denn man könne den „kommunistischen Teufel“ des Staatssozialismus kaum mit „dem faschistischen Belzebub“ Springers austreiben. Andrej Sinjawski konterte für Kontinent, „dass [Springer] noch keinen einzigen Schriftsteller erschossen oder ins Konzentrationslager geschickt“ habe. Der Chefredakteur Wladimir Maximow verbat sich seinerseits, in westdeutsche Parteikämpfe verwickelt zu werden.
Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, FSO 01-003, Porträt von Wladimir Maximow.
Die hoffnungsvollen wie die kontroversen Reaktionen auf die Erstpublikation von Kontinent demonstrieren, dass die vermeintlich identischen, letztlich aber doch sehr spezifischen Agenden und Bewertungsparameter westlicher Intellektueller und osteuropäischer Dissidenten bei allem Interesse aneinander oft schwer in Einklang zu bringen waren. Für einen Austausch waren sie oft eher hinderlich. Grass gründete mit Heinrich Böll und Carola Stern mit L’76 bald eine Zeitschrift, die sie ihrerseits als ein alternatives europäisches Forum zur Reflexion über Fragen von Demokratie und Sozialismus positionieren wollten; das Projekt überdauerte aber nur wenige Jahre. Die Zentralredaktion von Kontinent in Paris dagegen arbeitete bis Anfang der 1990er Jahre daran, russische, tschechoslowakische, polnische und andere osteuropäische Autoren zu publizieren.
Die Dichterin Natalija Gorbanewskaja war eine Schlüsselfigur in der Kontinent-Redaktion für die Kontakte zur polnischen Diaspora und deren Exilzeitschrift Kultura. So zeichnete sich Kontinent u.a. durch die Publikation des ersten Briefes sowjetischer Dissidenten aus, in dem diese das Massaker von Katyn als ein Verbrechen Stalins (und nicht, wie lange von der Sowjetunion behauptet, als eines der deutschen Wehrmacht) verurteilten. Zugleich war Kontinent auch unter osteuropäischen Intellektuellen umstritten; ätzende Editorials von Maximow verprellten viele Autoren, die wiederum der Illoyalität beschuldigt wurden. Mit großer Vehemenz ausgefochtene, oft hochpersonalisierte Auseinandersetzungen in und um Kontinent führten u.a. dazu, dass Sinjawski und seine Ehefrau Maria Rosanowa schließlich die Zeitschrift Syntaksis als Alternative zu Kontinent herauszugeben begannen. Dies hat auch Spuren in vielen der an der Forschungsstelle Osteuropa aufbewahrten Archivbestände hinterlassen, nicht zuletzt in den Nachlässen von Wladimir Maximow und Natalia Gorbanewskaja.
Maike Lehmann
Lesetipps:
Michael Scott Christofferson: French Intellectuals Against the Left. The Antitotalitarian Moment of the 1970s, New York & Oxford 2004.
Karolina Zioło-Pużuk: Contact Beyond Borders and Historical Problems. Kultura, Russian Emigration, and the Polish Opposition, in: Friederike Kind-Kovác, Jessie Labov (eds.): Samizdat, Tamizdat and Beyond. Transnational Media During and After Socialism, New York 2013, 92-106.
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