Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Maike Lehmann (Bremen)
Kul‘turnost‘ and Non/Belonging in the Late Soviet Union
(65% der vollen Wochenarbeitszeit, Entgeltgruppe 13 TV-L)
ab dem 01. Januar 2025 befristet für 3 Jahre. Bewerbungsfrist: 31.10.2024
Diskussion: Was ist „Osteuropa“? Geschichte und Gegenwart eines widersprüchlichen Konzepts
19 Uhr, Bibliothek der Weserburg Museum für moderne Kunst
Anastasia Tikhomirova, Hans-Christian Petersen, Artur Weigandt, Klaas Anders
Ukrainische Schriftsteller*innen in Zeiten des Krieges
18:00 Uhr, Europapunkt Bremen
Oxana Matiychuk, Susanne Schattenberg
Wissenswertes
„Genau deshalb haben wir uns entschlossen, das erste – in unserem Land freie – Journal für Frauen herauszugeben.“
Vor 40 Jahren erschien in Leningrad die erste inoffizielle Zeitschrift von Frauen für Frauen in der Sowjetunion im Selbstverlag (Samisdat)Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, FSO 01-143. Inhaltsverzeichnis der Samisdat-Zeitschrift "Maria". Foto: Maria Klassen.
„Zehn Betten, auf denen die unglücklichen Opfer des Patriarchats wimmern. Rote Laken, vor Schmerz weit aufgerissene Augen, zerbissene Lippen […]. Durchnässte Hemden, zerzauste Haare.
- Warum liegen alle zusammen?
- Es gibt so viele von ihnen.
- Aber das sind doch Menschen.
- Hören Sie auf zu philosophieren. Legen Sie sich hin und gebären Sie!“
So beschreibt Tatjana Mamonowa ihre Erfahrung in einer sowjetischen Geburtsklinik. Was bedeutet es, wenn Frauen immer wieder (ohne Betäubung) abtreiben, weil es keine Verhütungsmittel gibt? Wie erleben Frauen Lagerhaft, wo sexuelle Übergriffe als normale Initiationsriten gelten? Und wie können sich Frauen in einer männlich dominierten Kunstszene behaupten?
Darüber wurde in der Sowjetunion nicht geschrieben. Deshalb beschloss 1979 Tatjana Mamonowa gemeinsam mit ihrem Mann Gennadij Schikarew-Mamonow, Natalia Malachowskaja, Tatjana Goritschewa, Julija Wosnessenskaja und anderen Frauen in Leningrad eine eigene Zeitschrift im Selbstverlag (Samisdat) herauszugeben. Sie nannten sie „Die Frau und Russland. Zeitschrift von Frauen über Frauen“. Ab Herbst 1979 kursierten zehn Exemplare in Leningrad. Als Erscheinungsdatum gaben die Frauen dennoch den 10. Dezember an. Das gefälschte Datum sollte den Geheimdienst in die Irre führen sowie auf den Tag der Menschenrechte verweisen.
Der KGB reagierte schnell auf die neue Zeitschrift. Die Schilderungen des Alltags widersprachen fundamental dem Bild der Gleichstellung der sowjetischen Frau, das von der sowjetischen Propaganda auch im Ausland gerne verbreitet wurde. Dazu kam, dass es den Autorinnen Ende 1979 gelungen war, ein Exemplar über das französische Konsulat nach Paris zu schmuggeln. In vielen Ländern veröffentlichten Frauengruppen sofort die Texte der Zeitschrift. Um Proteste im Umfeld der Olympischen Sommerspiele 1980 zu vermeiden, wurden alle vier Frauen aus der Sowjetunion ausgewiesen.
Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, FSO 01-143. Einzelne Ausgaben der Zeitschrift "Maria". Foto: Maria Klassen.
Noch vor der Ausweisung hatten sie zusammen mit anderen Frauen eine weitere Zeitschrift in Umlauf gebracht, die sie „Maria“ nannten. Der religiöse Bezug des Namens war nicht zufällig gewählt. Christentum, Yoga, Buddhismus: Die Suche nach spirituellen Alternativen zum historischen Materialismus war in der inoffiziellen Kultur der Sowjetunion sehr verbreitet und auch viele der Leningrader Autorinnen suchten in der Religion nach Antworten auf ihre Probleme.
Die ersten drei Nummern von „Maria“ wurden in den Westen geschmuggelt und in Frankfurt bzw. Paris nachgedruckt. Das vorliegende Typoskript der fünften Nummer, das heute im Archiv der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen aufbewahrt wird, stammt aus dem Nachlass Julija Wosnessenskajas. In diesem Exemplar lag eine in Linz am 11. August 1981 gelöste Fahrkarte, Wosenessenskaja hatte sie vermutlich als Lesezeichen verwendet. Wahrscheinlich hatte sie die Texte mit der im österreichischen Exil lebenden Mitherausgeberin Natalia Malachowskaja besprochen. Die handschriftlichen Korrekturen zeugen von ihrer Arbeit.
Die fünfte Nummer wurde allerdings nicht mehr nachgedruckt. Wahrscheinlich deshalb, weil im September 1981 Natalia Lasarewa, die Herausgeberin der sechsten Nummer zu zehn Monaten Haft verurteilt wurde. Die Texte für die siebte Nummer konfiszierte der KGB im März 1982 bei ihr. Im Juli wurde sie zu noch einmal vier Jahren Lagerhaft verurteilt. Dies war das Ende der Zeitschrift „Maria“. Tatjana Mamonowa hatte in der Zwischenzeit mit einer anderen Gruppe von Frauen weitere Nummern unter den Titeln „Die Russin“ und „Die Frau und Russland“ herausgegeben, allerdings erschienen sie alle im Exil.
Lesetipps:
Tatjana Mamonowa (Hg.): Die Frau und Russland. Almanach von Frauen für Frauen, München 1980.
Natalja Baranskaja: Woche um Woche. Frauen in der Sowjetunion. Erzählungen, Darmstadt/Neuwied 1979.
Anke Stephan: Von der Küche auf den Roten Platz. Lebenswege sowjetischer Dissidentinnen, Zürich 2005.
Philipp Venghaus
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