Film und Gespräch: Heller Weg
19:00 Uhr, Kulturwerkstatt Westend
Mit Regisseurin Iryna Riabenka, moderiert von Oksana Chorna
Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Natalia Fedorenko (Bremen)
Coming of Age in the Urals in the Early 1960s: Ideals and Perspektives of the Middle Class. The Story of Anna Tarshis
Wissenswertes
„Moskau-Petuschki“ von Wenedikt Jerofejew
Zum 30. Todestag des Autors
Landkarte Moskaus als Vorsatzpapier der Moskau-Petuschki-Samisdatausgabe von Lew Michailowitsch Turtschinski. Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, FSO. Foto: Maria Klassen.
„Moskau-Petuschki“: Ohne diesen Text von Autor Wenedikt Jerofejew wäre der Moskauer Vorort Petuschki kaum jemandem ein Begriff. 120 km trennen ihn von Moskau. Für die Hauptfigur des „Poems“ Wenitschka ist Petuschki ein Sehnsuchtsort, in dem der Jasmin nie verblüht und die Vögel nie aufhören zu singen. Jerofejew-Anhänger, die sich auf Wenitschkas Spuren nach Petuschki aufmachen, finden dort wahrscheinlich keinen Jasmin, und das macht auch nichts. Der Weg ist das Ziel, also die Fahrt vom Kursker Bahnhof mit der Vorortbahn nach Petuschki und zurück. Das ist, ganz grob, die Handlung von „Moskau-Petuschki“.
Die Eskapaden des Alkoholikers Wenitschka, verfasst 1969, waren Kult im sowjetischen Samisdat. Jeder einzelne Aspekt des Textes verstieß gegen die Vorgaben der Literatur des Sozialistischen Realismus. Der Hauptheld: ein Säufer. Die Einstellung zum Staat: negativ. Die Darstellung des sozialistischen Lebens: vernichtend. Hauptbezugstext: die Bibel. Das Resultat ist eine entlarvende Satire der sowjetischen Mangelwirtschaft. Der Witz beruht auf der karnevalistischen Kombination von Hohem und Niedrigem, von Beschreibungen, welche abstoßenden alkoholhaltigen Flüssigkeiten wie Parfum und Politur Wenitschka trinkt, die in elegisch-feierlichem Ton und gespickt mit Bibelzitaten sowie Verweisen auf Klassiker der russischen und der Weltliteratur präsentiert werden. Die Mischung aus Tragik und schreiender Komik in Sprache und Sujet machten das Poem zu einem begehrten Samisdat- und ab 1973 auch Tamisdat-Text und seinen Autor zu einer Berühmtheit.
Die erste sowjetische Publikation erschien 1988/89 ausgerechnet in der Zeitschrift „Trezvost‘ i kul‘tura“ (Nüchternheit und Kultur), es folgten kurz darauf Publikationen in einem Almanach und als einzelne Buchausgabe, was Jerofejew (24.10.1938-11.05.1990) gerade noch erlebte. 1985 war er an Kehlkopfkrebs erkrankt. Nach mehreren Operationen konnte Jerofejew nur noch mit Hilfe eines Apparats sprechen, indem er einen Vibrationssensor von außen an den Hals hielt. Das Gerät verstärkte die Schwingungen zu einer blechern-scheppernden Rede. Dies ist eindrucksvoll in Paweł Pawlikowskis Dokumentarfilm „Moskau-Petuschki“ (1990) zu sehen.
Die Phantastik von Wenitschkas Reise nach Petuschki ist insofern vergleichbar mit Jerofejews Biographie, als auch diese von Legenden umwoben ist, wozu Jerofejew noch zu Lebzeiten beigetragen hat. So gibt es beispielsweise unterschiedliche Versionen dazu, warum er 1962 vom Pädagogischen Institut in Vladimir ausgeschlossen wurde. Ein Bekannter erzählt, Jerofejew habe einen studentischen Selbstmörderinnenzirkel organisiert. In einem Interview erzählte Jerofejew, man habe ihn wegen seiner Sonette hinausgeworfen. In einem anderen Interview erklärte er, die Institutsleitung habe ihn exmatrikuliert, weil man im Wohnheim in seinem Nachttisch eine Bibel gefunden habe. Jede dieser Varianten ergibt eine grandiose Geschichte. Möglicherweise war es aber doch vor allem wegen seiner Sauferei und deswegen, weil er Vorlesungen und Prüfungen verpasste. Aber wie banal wirkt das im Vergleich zur Flamboyanz der Alternativen.
Buchdeckel der Moskau-Petuschki-Samisdatausgabe von Lew Michailowitsch Turtschinski. Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, FSO. Foto: Maria Klassen.
Solch irrsinnig komischer Wahnsinn spricht auch aus jeder Zeile von „Moskau-Petuschki“. Die Ausgabe im Archiv der Forschungsstelle ist ein individuell gestaltetes Sammelstück. Es gehörte dem Literaturwissenschaftler und Buchbinder Lew Michailowitsch Turtschinski (geb. 1933). Den grünen Leineneinband seiner Ausgabe von „Moskau-Petuschki“ hat er selbst gemacht, entsprechend professionell ist die Arbeit. Für das Vorsatzpapier verwendete er eine Landkarte von Moskau und Umgebung. Das geflochtene Lesebändchen ist wie der Einband grün. Ins Auge fällt die handgezeichnete Illustration. Die Tuschezeichnung von Nikolai Knorre zeigt Wenitschka / Wenedikt Jerofejew von Flaschen und Eisenbahngleisen umgeben, wie er vor dem Hintergrund von Kursker Bahnhof und Kremltürmen mit dem rechten Arm einen Koffer an seine Brust drückt und mit der linken eine Glocke läutet.
Im Text gibt es Tippfehler, die zum Teil korrigiert wurden. Die Seitennummerierung ist fehlerhaft. Von Kleinigkeiten abgesehen stimmt der Text mit dem der gedruckten Ausgabe überein. Es fehlt, was nicht auf der Schreibmaschine getippt werden kann: die Kurven der drei Diagramme, die den Alkoholkonsum Wenitschkas und zweier Kollegen zeigen. Die Samisdatausgabe enthält die Koordinatensysteme, aber die Kurven hätten per Hand eingezeichnet werden müssen, was in diesem Exemplar nicht geschah.
Lesetipps
Erofeev, Venedikt: Moskau - Petuški: ein Poem. Übersetzt und mit einem Kommentar von Peter Urban, Zürich 2005.
Jerofejew, Wenedikt: Die Reise nach Petuschki. Ein Poem. Übersetzt von Natascha Spitz, München 2015.
Jerofejew, Wenedikt: Aufzeichnungen eines Psychopathen. Aus dem Russ. von Thomas Reschke, Köln 2004.
Yvonne Pörzgen
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