Bibliothek und Archiv für Nutzung geschlossen
Bewerbungsschluss 05.01.2025
20h/Monat ab 1. April 2025; Unterstützung in Forschung und Lehre
Admin, max. 18h / Woche
zum 01.01.2025
Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Kerstin Brückweh (Erkner)
Wohnen und Wohneigentum. Lässt sich aus der Geschichte der Transformation in Ostdeutschland lernen?
20.01.2025 Bewerbungsschluss
03.07.-05.07.2024, Dresden
Buchvorstellung
18:00 Uhr, OEG 3790
"The Making and Unmaking of the Ukrainian Working Class"
mit Dr. Denys Gorbach (Autor) und Prof. Dr. Jeremy Morris (Diskutant)
Wissenswertes
Der „Paganini der Schreibmaschine“
Ein Rückblick auf Wladimir Erls vielfältiges Schaffen
Typoskriptseite aus Wladimir Erls „Auf der Suche nach dem verlorenen Chejf“, 1976. Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Foto: Maria Klassen.
Am 25. September 2020 verstarb nach langer schwerer Krankheit der Dichter, Prosaiker und Textologe Wladimir Iwanowitsch Gorbunow, bekannt unter dem Pseudonym Wladimir Ibragimowitsch Erl. Er war einer der prominentesten Protagonisten der inoffiziellen literarischen Szene Leningrads in den 1960er–1980er Jahren und wurde in der postsowjetischen Zeit vor allem als Herausgeber bisher unveröffentlichter Autoren bekannt. Sein Nachlass im Archiv der Forschungsstelle Osteuropa gehört zu den wertvollsten Kollektionen der inoffiziellen Kultur der Sowjetzeit.
Wladimir Erl wurde am 14. Mai 1947 in Leningrad geboren. Noch zu Schulzeiten gehörte er einer der ersten inoffiziellen literarischen Vereinigungen Leningrads an, den „Dichtern der Malaja-Sadowaja-Ulitsa“ (Kleine Gartenstraße). Seit 1964 trafen sich junge Literaten rund um das namenlose Café in einer der kürzesten Straßen der Stadt. Im Jahr 1965 nahm Wladimir Erl an der Vorbereitung des Samisdat-Almanachs dieser Vereinigung „Fioretti“ teil; im selben Jahr gründete er den Samisdat-Verlag „Polsa“ (Nutzen), später „Palata Mer i Wesow“ (Eichamt). Der Name dieses zweiten Verlags stand stellvertretend für die außergewöhnliche Qualität seiner Veröffentlichungen. Boris Konstriktor, ein Mitstreiter in der Gruppe der Transfuristen, bezeichnete Erl sogar bewundernd als „Paganini der Schreibmaschine“.
Seit Ende der 1960er Jahre befasste sich Wladimir Erl als einer der ersten Forscher in der Sowjetunion mit dem Nachlass der damals verbotenen Dichter der künstlerischen Vereinigung „OBERIU“, vor allem mit Daniil Charms, Konstantin Waginow und Aleksandr Wwedenskij. Zusammen mit Michail Meilach bearbeitete er die erste vierbändige russischsprachige Sammlung der dichterischen Werke von Daniil Charms, die im Bremer Verlag K-Presse erschien. In diesem kleinen Verlag, gegründet von dem Bohemisten Frank Boldt und dem Russisten Lasar Fleischman, erschienen in den 1970er–1980er Jahren Werke von Literaten, die in der Sowjetunion verboten waren: Michail Bulgakow, Natalja Gorbanewskaja, Nikolaj Olejnikow u.a. Die Beteiligung an einer solchen Publikation im Tamisdat (= Auslandsverlag) war nicht ungefährlich; Michail Meilach wurde im Jahr 1983 wegen Verbreitung antisowjetischer Literatur verhaftet und zu sieben Jahren Straflager verurteilt. In seiner Abwesenheit betreute Wladimir Erl die Fortsetzung der Bremer Ausgabe und nahm später an der Vorbereitung weiterer Publikationen der OBERIU-Dichter teil. Außer der zweibändigen Wwedenskij-Ausgabe gab er in Zusammenarbeit mit Tatjana Nikolskaja die gesammelten prosaischen Werke von Konstantin Waginow heraus. Eine entsprechende Ausgabe des dichterischen Nachlasses von Waginow blieb unveröffentlicht.
Wladimir Erl in seiner Wohnung. Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Foto: Tatiana Dvinyatina.
Für seine Tätigkeit als Textologe bekam Wladimir Erl im Jahr 1986 den renommierten unabhängigen Andrej-Belyj-Preis, der im Jahre 1978 von führenden Samizdat-Zeitschriften des Leningrader Undergrounds geschaffen wurde und während der Perestroika einen offiziellen Status erlangte. Zu weiteren Veröffentlichungen Erls gehörten Werke von Vertretern der inoffiziellen Leningrader Szene wie Leonid Aronson, Wasilij Kondratjew, Aleksandr Mironow u.a. Die Novelle von Wsewolod Petrow „Manon Lescaut von Turdej“, die in Deutschland in der Übersetzung von Daniel Jurjew 2013 für Furore sorgte, brachte Erl zusammen mit N. Nikolajew in der Zeitschrift „Nowyj Mir“ 2006 heraus.
Das literarische Œuvre von Wladimir Erl umfasst Gedichte, Romane, Kurzprosa und dramatische Werke in der Tradition des russischen Absurdismus und der Neoavantgarde der Nachkriegszeit. 1966 gründete Wladimir Erl zusammen mit D. Makrinow, A. Mironow, W. Nemtinow u.a. die Gruppe „Chelenukty“, die mit ihren Happenings und literarischen Provokationen für Aufsehen sorgte. Seine selbstverlegten Werke wie „Knega Kinga“ (1981) und „W poiskach sa utratschennym Chejfom“ (Auf der Suche nach dem verlorenen Chejf) gehören zu den herausragenden Beispielen der russischen Konzeptkunst und visuellen Literatur. Der Roman dient als Archivale des Monats.
Als Literat in Deutschland weitgehend unbekannt, trug Wladimir Erl maßgeblich dazu bei, dass die Werke des (spät-)sowjetischen Underground der Öffentlichkeit inzwischen auch in deutscher Übersetzung zugänglich sind. Seine reiche und vielseitige Sammlung im Archiv der FSO vermittelt einen Eindruck von seinem Leben und seiner Tätigkeit auf verschiedensten Gebieten der Literatur und Kunst.
Ilja Kukuj
Lesetipps
Konstantin Kuz'minskij, Grigorij Kovalev (ed.): Ėrl'. Antologija novejšej russkoj poėzii u Goluboj laguny v 5 tomach, Tom 4A, Newtonville 1983.
Alexandr Sumerkin (ed.): Free Voices in Russian Literature 1950s – 1980s. A Bio-Bibliographical Guide, New York 1987.
Dmitrij Severjuchin (ed.): Samizdat Leningrada: 1950-e – 1980-e. Literaturnaja ėnciklopedija, Moskva 2003.
Anatoly Kudryavitsky (ed.): Accursed Poets: Dissident Poetry from Soviet Russia 1960-80. Edited and translated by Anatoly Kudryavitsky, Ripon 2020.
Ilja Kukuj forscht und publiziert zur russischsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er ist Koordinator für Sprachunterricht Russisch am Institut für Slavische Philologie der LMU München und Mitherausgeber des Wiener Slawistischen Almanachs.
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