Film und Gespräch: Heller Weg
19:00 Uhr, Kulturwerkstatt Westend
Mit Regisseurin Iryna Riabenka, moderiert von Oksana Chorna
Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Natalia Fedorenko (Bremen)
Coming of Age in the Urals in the Early 1960s: Ideals and Perspektives of the Middle Class. The Story of Anna Tarshis
Wissenswertes
Ode an die Erika
Zum Tod von Karl Clauss Dietel (1934-2022)
Ein Modell der „Erika“, designt von Karl Clauss Dietel. Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, © Foto: Forschungsstelle Osteuropa
Zwischen den kräftigen Riesen
streichen unsere Nichtsnutze, die Nestors und Pimens, herum
Ihre Namen hat man nicht auf den Bühnen verkitscht,
Hochglanzcover werden sie nicht schmücken:
„Erika“ zieht vier Seiten ein,
das ist alles!
Und das ist genug.
Auch wenn es nur vier Seiten sind –
es ist genug!
So besang der Dissident und Liedermacher Alexander Galitsch (1918-1977) 1966 die Schreibmaschine „Erika“, die Karl Clauss Dietel designt hatte. Auch wenn Dietel in Ostdeutschland vielleicht mehr für das Design des Motorkicks Simson und der PKWs Wartburg sowie Trabant verehrt wurde, war die „Erika“ ebenso ein Design-Klassiker, der besonders in der Sowjetunion geschätzt wurde. Während Dietel für das „offene Prinzip“ stand, das dem Nutzer oder der Nutzerin den Austausch von Ersatzteilen ermöglichen sollte, und die „Fünf L“ hochhielt – langlebig, leicht, lütt, lebensfreundlich, leise –, schätzten die Dissident*innen seine Schreibmaschine, weil sie „vier Seiten einzog“, wie Galitsch es besang.
Schreibmaschinen waren überall im Staatssozialismus eine „Defizitware“ und grundsätzlich suspekt: Man konnte sie nicht einfach kaufen, sondern musste ein Anrecht nachweisen und selbst dann lange auf eine Maschine warten: Literaturstudierende, Schriftsteller*innen und Journalist*innen, aber nur, wenn sie in den entsprechenden Berufsverbänden Mitglied waren, natürlich die Staatsbetriebe, Universitäten, wissenschaftliche Einrichtungen und nicht zuletzt Partei- und Staatsapparat. Wer eine Schreibmaschine ergattern konnte, schätzte sich glücklich. Wer eine „Erika“ bekam – noch glücklicher, denn sie „zog vier Seiten“ ein, was die sowjetischen Modelle nicht konnten. Vier Seiten, das bedeutete, vier Seiten weißes Papier, dazwischen immer ein Blatt Kohlepapier für den Durchschlag. Nur bei der Erika war auch die vierte Seite im Farbbild noch kräftig genug und zu lesen. Bei sowjetischen Typen musste so stark auf die Tasten geschlagen werden, dass die erste Seite meist voller Löcher und die letzte trotzdem blass und nicht zu lesen war.
Selbstverlag – Samisdat bedeutete in der Sowjetunion, seine Schriften mit der Schreibmaschine abzutippen, denn Abmachungen unter der Hand mit professionellen Druckereien, wie sie in der ČSSR und Polen gelangen, gab es in der Sowjetunion nicht. Die Schreibmaschine war also die Druckerpresse. Meist „tippten“ Frauen: des Nachts in der Küche, wenn man privat eine Maschine besaß, oder abends nach Feierabend am Arbeitsplatz: Andrei Sacharow ließ sein berühmtes Manifest „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“ 1968 von einer Schreibkraft im geheimen Konstruktionslabor für Atomwaffen ins Reine tippen. Ob es eine Erika war, wissen wir leider nicht.
Galitsch besang in seinem Lied „Wir sind nicht schlechter als Horaz“ die karge Kunst der nonkonformen, vom offiziellen Literaturbetrieb ausgeschlossenen Schriftsteller, die es nie auf eine offizielle Bühne schafften oder ihr Werk in einem Hochglanzumschlag sehen würden. Statt Premieren und Vernissagen blieben ihnen nur kleine schäbige Zimmer – und eine „Erika“ – „und das ist genug“. Die „kräftigen Riesen“ spielen einerseits auf die Größen der Weltliteratur an, könnten andererseits aber auch für die offiziellen sowjetischen Schriftsteller stehen. „Nestor“ und „Pimen“ waren zentrale Chronisten der alten russischen Geschichte. Dass sie hier als „Nichtsnutze“ betitelt sind, mag ein Hinweis darauf sein, dass Galitsch damit Dissidenten umschrieb, denn als „Herumtreiber“ galten im strafrechtlichen Sinne alle Autor*innen, die nicht vom Schriftstellerverband anerkannt waren und keiner anderen geregelten Arbeit nachgingen. Als solcher wurde der spätere Nobelpreisträger Joseph Brodsky 1964 zu fünf Jahren Zwangsarbeit im Hohen Norden verurteilt. Mit den „Pimens“ könnte Galitsch daher auch den Dissidenten Revolt Pimenov (1931-1990) gemeint haben, der verschiedene unerwünschte Schriften auf einer Schreibmaschine vervielfältigte und dafür 1958-1960 ins Lager gesperrt wurde. Wer sich hinter den „Nestors“ verstecken könnte, ist unklar. Gleichzeitig erhob Galitsch die Dissidenten damit in den Rang von Chronisten.
Die „Erika“, die sich im Besitz der Forschungsstelle Osteuropa befindet, gehörte einem Leningrader Hilfsfonds für politische Gefangene, der sie Ende der 1970er Jahre nutzte, sicher, um Eingaben an die Strafvollzugsbehörden, Staat und Partei zu schreiben, vermutlich auch, um Informationen über die Lage der Gefangenen im Samisdat und Tamisdat zu verbreiten. Seit 1995 befindet sie sich im Archiv der Forschungsstelle im Bestand „Museale Gegenstände“.
Stellvertretend für Alexander Galitsch und alle Dissident*innen, die es nicht mehr selbst machen können, gedenken wir Karl Clauss Dietels, des Schöpfers der „Erika“, der Druckerpresse des Samisdat.
Susanne Schattenberg
Lesetipps
Klaus Michael: Samisdat – Literatur – Modernität. Osteuropäischer Samisdat und die selbstverlegte Literatur Ostdeutschlands, in: Siegfried Lokatis, Ingrid Sonntag (Hg.): Heimliche Leser in der DDR: Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur, Berlin 2008, S. 340–357.
Barbara Martin: Dissident Histories in the Soviet Union: From De-Stalinization to Perestroika, London 2019.
Josephine von Zitzewitz: The Culture of Samizdat. Literature and Underground Networks in the Late Soviet Union, London 2020.
Susanne Schattenberg ist Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa und Professorin für Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas an der Universität Bremen.
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