Film und Gespräch: Heller Weg
19:00 Uhr, Kulturwerkstatt Westend
Mit Regisseurin Iryna Riabenka, moderiert von Oksana Chorna
Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Natalia Fedorenko (Bremen)
Coming of Age in the Urals in the Early 1960s: Ideals and Perspektives of the Middle Class. The Story of Anna Tarshis
Wissenswertes
Ein Brief an den Minister
Zum 100. Geburtstag von Jirí Lederer (1922-1983)
Lederers Brief an den Innenminister der ČSSR, Jaromír Obzina, und eine deutsche Ausgabe der „Tschechischen Gespräche“. Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Foto: Elias Angele.
“Herr Minister,
Ich wende mich an Sie mit Problemen, an deren Lösung mir sehr liegt. Diese Lösung fällt direkt oder indirekt in Ihren Zuständigkeitsbereich.
1. Im Gefängnis sitzt eine Reihe meiner Freunde. Vor allem bin ich besorgt über das Schicksal meiner Freundin Otka Bednárová. Schon aus dem Gefängnis habe ich in einem Brief geschrieben, dass ich für ihre Freilassung viel zu opfern bereit bin.“
Mit diesen Worten begann im April 1980 der tschechische Journalist und Dissident Jirí Lederer einen Brief an den damaligen Innenminister der Tschechoslowakei. Ordentlich nummeriert, listete der vor 100 Jahren geborene Lederer weitere dringende Punkte auf: unter anderem die bisher verweigerte Ausreise seines Sohnes Aleš zu einem Studienaufenthalt in Wien, der in der CSSR nicht studieren durfte, oder die Rückgabe von verschiedenen Dokumenten, die bei Hausdurchsuchungen beschlagnahmt worden waren.
Diesem Brief war bereits eine Dekade der Konfrontation mit dem Staat vorausgegangen. Lederer erhielt, wie Tausende andere auch, nach der aktiven Unterstützung des Prager Frühlings bereits 1969 Berufsverbot und kam wegen „Schädigung des Staates“ erstmals 1970 und erneut 1972 ins Gefängnis. Die Schikanen rissen auch danach nicht ab; regelmäßige Verhöre gehörten zum Alltag. Auch seine Ehefrau, die Dolmetscherin und Übersetzerin Elzbieta Ledererová, verlor ihre Anstellung. Lederer fand dennoch Wege, unter verschiedenen Decknamen zu publizieren, und er führte Mitte der 1970er Jahre mit einer Reihe von verbotenen Schriftstellern „Tschechische Gespräche“, die 1979 der Kölner Exilverlag INDEX veröffentlichte und die in der Tschechoslowakei unter der Hand schnell die Runde machten. Im Dezember 1976 gehörte Jirí Lederer zu den Erstunterzeichnern der Charta 77, auf deren Grundlage eine Bürgerinitiative zur Wahrung der Menschenrechte entstand. Die Folge war eine erneute Verhaftung und eine dreijährige Haftstrafe.
Erst Anfang 1980 wurde Lederer aus dem Gefängnis entlassen, der Druck auf ihn und seine Familie wurde jedoch weiter erhöht. Schon im Gefängnis war Lederer mehrmals zur Emigration aufgefordert worden; nun wurde seiner Frau, einer polnischen Staatsbürgerin, mit dem Entzug ihrer Aufenthaltsberechtigung gedroht. Drei Monate nach seiner Entlassung schrieb er den eingangs zitierten Brief, in dem er sich für seine kranke Freundin Otka einsetzte. Jirí Lederer schloss: „Ich teile Ihnen mit, dass, wenn ich die Möglichkeit erhalte, mich mit einem Verantwortlichen für die Lösung der Probleme zu treffen, ich ernsthaft den Wunsch Ihres Ressorts in Erwägung ziehen werde, der mir mehrmals im Gefängnis im Jahr 1978 übermittelt wurde.“
Im September 1980 siedelte Jirí Lederer mit seiner Ehefrau Elzbieta und deren Tochter in die Bundesrepublik Deutschland über. Bereits drei Jahre später erlag Lederer mit nur 61 Jahren einem Herzinfarkt.
Der Brief ist Teil des Nachlasses von Jirí Lederer, den seine Witwe Elzbieta mitsamt zahlreichen Ausgaben des tschechischen Samisdat in den Jahren 1986 bis 1987 an die Forschungsstelle Bremen übergab. Der Nachlass enthält unter anderem Briefe, Protokolle der Künstlerverbände und Materialien aus dem Zusammenhang des Projekts "Tschechische Gespräche".
Sarah Lemmen
Lesetipps
Jiří Lederer: Tschechische Gespräche. Schriftsteller geben Antwort. Reinbek bei Hamburg 1979.
Jonathan Bolton: Worlds of Dissent: Charter 77, the Plastic People of the Universe, and Czech Culture Under Communism, Cambridge, Mass. 2012.
Sarah Lemmen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universidad Complutense Madrid. Von 2014 bis 2017 war sie Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kulturgeschichte Ostmitteleuropas an der Universität Bremen.
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