Film und Gespräch: Heller Weg
19:00 Uhr, Kulturwerkstatt Westend
Mit Regisseurin Iryna Riabenka, moderiert von Oksana Chorna
Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Natalia Fedorenko (Bremen)
Coming of Age in the Urals in the Early 1960s: Ideals and Perspektives of the Middle Class. The Story of Anna Tarshis
Wissenswertes
Letzte Station: Dnipro
Über die literarischen Aufrufe Dmitrij Prigows und ihre neuerliche Reise durch Osteuropa
Prigows Appelle im russischen Original. Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Foto: Maria Klassen.
„Bürger!
Ob wir viel brauchen? – das fragt jeder, aber insgeheim trachten alle nach sehr viel, fast unermesslich viel!
Bürger!
Alles, alles wird gut, ich verspreche es euch!
Bürger!
Lächelt – und jeder wird eure guten Absichten verstehen!
Dmitrij Alexanytsch“
Diese Appelle Dmitrij Prigows (1940-2007), der zu den Leitfiguren des russischen Konzeptualismus gezählt wird, gehören zu einer ganzen Reihe literarischer Aufrufe des Moskauer Bildhauers, Künstlers und Performers „An die Bürger“ im Jahre 1986. Zwar saß im Kreml als oberster Generalsekretär der KPdSU bereits seit einem Jahr Michail Gorbatschow, doch von liberalen Reformen war noch kaum etwas zu spüren. Als Prigow mit seinen Appellen „An die Bürger“ auf die Straße ging, wurde er vom KGB beobachtet, verhaftet und in eine psychiatrische Anstalt zwangseingewiesen. Dank zahlreicher Proteste prominenter Persönlichkeiten im In- und Ausland wurde er nach kurzer Zeit wieder entlassen.
Als die Perestroika endlich an Schwung gewann, erreichte Prigow ein breiteres Publikum. Sein künstlerisches Schaffen sprühte vor Lebensfreude und einer Ironie, die sich bis ins Groteske steigern konnte, sowie beißender Gesellschaftskritik. Es machte ihn in der Heimat zur Kultfigur, besonders unter jungen Menschen. Die abgebildeten Aufrufe befinden sich im Archivbestand des Kulturwissenschaftlers und Philosophen Boris Groys, der nicht nur zur Entwicklung des russischen Konzeptualismus, sondern auch zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit demselben einen bedeutenden Beitrag geleistet hat.
In den letzten Jahren, wo in mehreren osteuropäischen Ländern das politische Pendel wieder ins Autokratische schwang, waren es erneut die Künstler*innen, die dagegen ein Zeichen setzen wollten, indem sie Ausstellungen mit Werken aus der altbekannten Dissident*innenzeit organisierten. So waren auch Prigows Aufrufe erneut gefragt und sie gingen als Exponate auf die Reise. Angefangen in Prag 2016 lasen Besucher*innen im slowakischen Žilina, in Zürich in der Schweiz, im polnischen Wrocław und im tschechischen Liberec seine hoffnungsfrohen Aphorismen. Großes Interesse zeigte an diesem Exponat zuletzt die ukrainische „Kultura Medialna“, eine Gruppe von Künstler*innen und Kulturschaffenden aus Dnipro. Vom November 2021 bis Mitte Februar 2022 wurden Prigows Aufrufe auch dort mit Erfolg gezeigt; rund eine Woche später begann der Krieg gegen die Ukraine.
In Prigows Heimat Russland ist die Perestroika nicht nur in Vergessenheit, sondern auch in Verruf geraten. Nahezu alle gesellschaftskritischen Stimmen wurden erwürgt. Die heutige allumfassende russische Propagandawelle mutet zwar von außen betrachtet oft als absurde Realsatire an, doch für die Einwohner*innen des Landes ist dies bitterer Ernst mit real drohenden katastrophalen Konsequenzen. In der Ukraine wiederum herrscht der tagtägliche Kampf ums Überleben. Dass unsere Archivalien dennoch heil nach Bremen zurückgekehrt sind, verdanken wir der pflichtbewussten und trotz der Kriegswirren zuverlässig agierenden Mitkuratorin aus Dnipro, Marija Yartschuk.
Maria Klassen
Lesetipps
Dmitrij Prigow: Der Milizionär und die Anderen: Gedichte und Alphabete, Leipzig 1992.
Boris Groys: Die totale Aufklärung. Moskauer Konzeptkunst 1960-1990, Frankfurt 2008.
Gerald Janecek: Everything has already been written. Moscow Conceptualist Poetry and Performance, Evanston 2019.
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