Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Maike Lehmann (Bremen)
Kul‘turnost‘ and Non/Belonging in the Late Soviet Union
(65% der vollen Wochenarbeitszeit, Entgeltgruppe 13 TV-L)
ab dem 01. Januar 2025 befristet für 3 Jahre. Bewerbungsfrist: 31.10.2024
Diskussion: Was ist „Osteuropa“? Geschichte und Gegenwart eines widersprüchlichen Konzepts
19 Uhr, Bibliothek der Weserburg Museum für moderne Kunst
Anastasia Tikhomirova, Hans-Christian Petersen, Artur Weigandt, Klaas Anders
Ukrainische Schriftsteller*innen in Zeiten des Krieges
18:00 Uhr, Europapunkt Bremen
Oxana Matiychuk, Susanne Schattenberg
Wissenswertes
Es lebe das Leben!
Zum 70. Todestag Stalins
Für Dreharbeiten nachgestellte Szene zur Feier von Stalins Todestag, 1991. Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Foto: Holger Reuter.
„5. März 1953 – Stalin ist tot.“ Der Tod des Diktators und Massenmörders war für Millionen von Menschen ein Freudentag. Es war ein Tag der Befreiung. Dies galt auch für Wilhelmine „Mischka“ Slawuzkaja (Foto oben, 2.v.l.) Fast 20 Jahre hatte Mischka in Gulag und Verbannung gelitten, wegen „konterrevolutionärer Arbeit“. Die kleine zarte Frau überlebte die Torturen und feierte nach der Rückkehr fortan gemeinsam mit ihren Freunden an jedem 5. März den Tod des Tyrannen. Die Fotos entstanden im Sommer 1991 während der Dreharbeiten für ein Filmporträt über Mischka. In Mischkas kleiner Moskauer Wohnung hatte sich die Feierrunde eigens eingefunden, um ihr jährliches Ritual für die Kamera noch einmal zu zelebrieren.
Fast alle waren Opfer des Großen Terrors, der Säuberungen von September 1936 bis Dezember 1938 die sich auch gegen die „Treuesten der Treuen“ richteten, wie etwa Anna Larina Bucharina (3.v.l.), die Ehefrau von Stalins ärgstem Parteirivalen Bucharin. Denunziationen, hanebüchene Beschuldigungen, erzwungene irrwitzige Geständnisse, konstruierte Anklagen und Urteile machten vor niemanden halt: Marlen Koralow (1.v.l.), dessen bizarren Vornamen ihm seine Eltern zu Ehren von Marx und Lenin gegeben hatten, wurde als Jugendlicher wegen „versuchten Mordes an Stalin“ zu sieben Jahre Lager verurteilt; Naum Slawuzki (7.v.l.) verbannten sie wegen „trotzkistischer Agitation“ für vier Jahre in den Gulag; Rebecca Berg (5.v.l.) schickten die Richter wegen „konterrevolutionärer Tätigkeit“ für 14 Jahre ins Lager; ihr Mann Lew Rasgon (4.v.l.), später einer der Gründerväter von Memorial, wurde sogar zweimal verhaftet und verurteilt – wegen Konterrevolution musste er insgesamt 17 Jahre im Gulag leiden. Endgültig frei kam die Tischrunde erst 1955, zwei Jahre nach Stalins Tod, als das politische Tauwetter in der Sowjetunion langsam einsetzte. Mischka wurde sogar offiziell rehabilitiert und erhielt als ehemalige Komintern-Mitarbeiterin zwei Monatsgehälter Entschädigung.
Symbolische Brotzuteilung. Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Foto: Holger Reuter.
Immer wenn die Freunde, die sich zum Teil im Lager kennengelernt hatten, am 5. März zusammenkamen, vollzogen sie die Freiheitsfeier auf dieselbe Art und Weise – mit viel Krimsekt zum Anstoßen auf die Freiheit und für jeden eine besondere Ration (Foto 2) russisches Schwarzbrot. Das Brot-Ritual erinnerte an die harte Arbeit im Gulag in Kasachstan, in der Komi-Region oder in Sibirien, wo die Häftlinge ungeachtet größter Hitze oder bei Minus 50 Grad Wälder roden, unwegsame Gebiete kultivieren, Bodenschätze abbauen mussten. Und nur wer die tägliche harte Arbeitsnorm zu 100 Prozent erfüllte, bekam die volle, überlebenswichtige Ration Brot. Mischka und ihre Freunde erinnerten an das brutale System auf ihre eigene Art: je länger die Haft, desto mehr Brot. Anna L. Bucharina, die Frau des „Volksverräters“ Bucharin, erhielt immer das größte Stück. Insgesamt 22 Jahre war sie in Lager und Verbannung und kam auch als letzte erst 1959 aus Sibirien nach Hause.
Die Bilder stammen aus dem Bestand von Wilhelmine Slawuzkaja, den ihre Familie im Jahr 2007 an das Archiv der Forschungsstelle Osteuropa übergeben hat.
Heinrich Billstein
Lesetipps
Applebaum, Anne: Der Gulag, Berlin 2003.
Weber, Hermann; Staritz, Dietrich (Hg.): Kommunisten verfolgen Kommunisten: Stalinistischer Terror und „Säuberungen“ in den kommunistischen Parteien Europas seit den dreißiger Jahren, Berlin 1993.
Heinrich Billstein ist Journalist und Filmemacher. Er ist Regisseur des Films "Mischka. Revolutionärin, Gefangene, Dissidentin" (WRD 1990/91).
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