Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Maike Lehmann (Bremen)
Kul‘turnost‘ and Non/Belonging in the Late Soviet Union
(65% der vollen Wochenarbeitszeit, Entgeltgruppe 13 TV-L)
ab dem 01. Januar 2025 befristet für 3 Jahre. Bewerbungsfrist: 31.10.2024
Diskussion: Was ist „Osteuropa“? Geschichte und Gegenwart eines widersprüchlichen Konzepts
19 Uhr, Bibliothek der Weserburg Museum für moderne Kunst
Anastasia Tikhomirova, Hans-Christian Petersen, Artur Weigandt, Klaas Anders
Ukrainische Schriftsteller*innen in Zeiten des Krieges
18:00 Uhr, Europapunkt Bremen
Oxana Matiychuk, Susanne Schattenberg
Wissenswertes
Der Ball der Modelle
Zum 100. Geburtstag des Künstlers und Dissidenten Boris Birger.
Archiv der Forschungsstelle Osteuropa, Foto: J.M. Lew (Schwiegervater von B.B. Birger).
Am späten Abend des 30.12.1976 herrschte in der Wohnung Nr. 22 im Moskauer Zentrum großer Trubel. Boris Birger, Künstler und Dissident, und seine Frau Natalia hatten zum Kostümball der Modelle geladen. Jeder der am Abend erwarteten Gäste war von Birger in den vergangenen Jahren porträtiert worden. Statt Funktionäre malte Birger seine Freunde. Für jedes Porträt hatte der bzw. die Auserwählte mehrere Wochen Modell gesessen, was mit der komplexen Maltechnik Birgers verbunden war. Die Wohnung gehörte zu den zentralen Treffpunkten einer alternativen Realität. Hier wurden Protestbriefe vorbereitet und es wurde über die Zukunft der Sowjetunion gestritten sowie ausgiebig gefeiert. Vor allem Birgers Geburtstage am 1. April — 2023 wäre er 100 Jahre alt geworden — und die Silvesterpartys erfreuten sich großer Beliebtheit unter den andersdenkenden Intellektuellen, denn sie schweißten zusammen und gaben Raum für fröhlichen Nonkonformismus.
Wer gehörte 1976 zur eingeschworenen Gemeinschaft? Einige Schnappschüsse, die sich im Archivbestand der Forschungsstelle Osteuropa befinden, sowie eine Gästeliste geben darüber Auskunft. Wie auf dem Foto zu sehen, wurde der Nobelpreisträger, Kernphysiker und Dissident Andrej Sacharow als römischer Patrizier eingekleidet. Links neben ihm steht der Gastgeber, in schwarzer Perücke und einem gerüschten Kleid. Auf anderen Fotos des Abends sind Elena Bonner, die Frau Andrej Sacharows, als Sonne, der Germanist und Dissident Lew Kopelew als Blaubart und seine Frau Raissa Orlowa als Nacht festgehalten. Der Dissident Julij Daniel und seine Frau Irina Uwarowa kamen als Dandy und Dame. Die Wohnung füllte sich rasch mit Gästen (insgesamt feierten etwa 30 Freunde das Jahresende 1976) und der Innenhof mit schwarzen Autos. Die Gastgeber und fast jeder ihrer Gäste wurden nach 1968 als Personae non gratae durch den KGB observiert. Sie alle hatten während des Tauwetters in Verbänden und Instituten die von Parteichef Nikita Chruschtschow eingeleitete Entstalinisierung vorangetrieben. Mit dem Ende des Tauwetters brach auch die gesellschaftliche und kulturpolitische Liberalisierung ab. Ihre Verfechter passten sich an oder wagten wie Birger und seine Modelle den Protest und rückten damit ins Visier der Staatsmacht.
Zu Beginn seiner Künstlerkarriere deutete wenig darauf hin, dass Birger in rigorose Opposition zum Sowjetischen Staat geraten würde. Der 1923 in Moskau in einer wohlsituierten jüdischen Familie geborene Künstler unterbrach 1941 sein Studium und ging als Freiwilliger an die Front, überlebte die Schlacht von Stalingrad und schloss nach dem Krieg sein Studium an der Kunstakademie ab. 1952 wurde er in den Künstlerverband aufgenommen und avancierte zu einem der erfolgreichsten jungen Künstler. Als solcher gehörte er auch zu den Mitorganisatoren der skandalträchtigen Manege-Ausstellung 1962, auf der Chruschtschow in einem Wutanfall mehrere Künstler für ihre von der Staatsnorm abweichende Kunst beschimpfte. In Folge dessen wurde Birger aus dem Künstlerverband ausgeschlossen. Ursache für die Strafmaßnahme, die de facto ein Ausstellungsverbot war und Birger in den Untergrund drängte, war nicht nur Birgers nonkonformer Malstil (vom Sozialistischen Realismus hatte sich der Künstler in den 1960er Jahre endgültig verabschiedet), sondern auch sein Engagement für Menschenrechte. Seine Unterschrift unter den offenen Brief gegen die Verurteilung der Bürgerrechtler Alexander Ginsburg und Juri Galanskow war ausschlaggebend für den Ausschluss aus der KPdSU (zum Eintritt war er in den Schützengräben von Stalingrad gezwungen worden).
Zwischen 1968 und 1989 hatte Birger keinerlei Aufträge oder Ausstellungen mehr. Sein Name durfte öffentlich nicht genannt werden. Das sowjetische System versuchte, ihn zu zermürben. Doch er schaffte das Unmögliche und schuf sein Werk in der Abgeschiedenheit eines 25qm kleinen Ateliers. Darunter finden sich Porträts seiner Freunde, zu denen auch Heinrich Böll und westliche Journalisten und Diplomaten gehörten.
Das Recht auf menschliche Würde ließ er sich nicht nehmen. Er gehörte zu den Wenigen, die es wagten, Sacharow und Bonner während ihrer Verbannung in Gorki zur Seite zu stehen, und er war auch unter denjenigen, die Sacharow bei seiner Rückkehr 1986 am Bahnhof abholten.
Zum 100jährigen Geburtstag Birgers sind die meisten Protagonisten des Balls der Modelle wie auch der Künstler schon längst ein Teil der Geschichte – einer Geschichte, die der russische Staat mit der Verfolgung und Auflösung des Sacharow Zentrums sowie der Geschichts- und Menschenrechtsorganisation Memorial wie einst die Dissidenten in den Untergrund drängen bzw. des Landes verweisen will.
Maria Birger
Lesetipps
Birger, Natalia (Hrsg.): Boris Birger, Moskau 2019.
Kiselew, Michail; Schumjazkij, Boris: Sam sebe Birger, Moskau 2009.
Maria Birger ist Osteuropa-Historikerin, Doktorandin an der HU zu Berlin sowie Tochter und Nachlassverwalterin des Künstlers.
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