Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Maike Lehmann (Bremen)
Kul‘turnost‘ and Non/Belonging in the Late Soviet Union
(65% der vollen Wochenarbeitszeit, Entgeltgruppe 13 TV-L)
ab dem 01. Januar 2025 befristet für 3 Jahre. Bewerbungsfrist: 31.10.2024
Diskussion: Was ist „Osteuropa“? Geschichte und Gegenwart eines widersprüchlichen Konzepts
19 Uhr, Bibliothek der Weserburg Museum für moderne Kunst
Anastasia Tikhomirova, Hans-Christian Petersen, Artur Weigandt, Klaas Anders
Ukrainische Schriftsteller*innen in Zeiten des Krieges
18:00 Uhr, Europapunkt Bremen
Oxana Matiychuk, Susanne Schattenberg
Wissenswertes
Viktor Sokirko – „Die Wirtschaft des Jahres 1990: Was erwartet uns, und gibt es einen Ausweg?“
Ein prophetischer Essay aus der Sowjetunion der späten Breschnewzeit.
Essay von Viktor Sokirko, 1979. Archiv der Forschungsstelle Osteuropa,
Foto: Maria Klassen.
Schon Ende der 1970er Jahre war sich Viktor Sokirko sicher: Die sozialistische Planwirtschaft der Sowjetunion war dem Untergang geweiht. Als Ingenieur wusste er vom technologischen Rückstand und der niedrigen Arbeitsproduktivität sowjetischer Fabriken. Als Wirtschaftswissenschaftler, zwischenzeitlich am Zentralinstitut für Mathematische Ökonomie in Moskau beschäftigt, kannte er die schrumpfenden Wachstumszahlen. In seinem Essay, den er unter seinem Klarnamen an die Redaktion der Prawda schickte, extrapolierte Sokirko 1979 die offiziellen Wirtschaftsdaten. Ein paar Jahre könne man sich noch durchhangeln, prognostizierte er. Aber im Jahr 1990 würde das System in eine kapitale Krise schlittern. Genau wie Sokirko es vorhergesagt hatte, trat der wirtschaftliche Kollaps schließlich auch ein.
Sokirkos Text zeigt anschaulich, dass es bereits in der späten Sowjetunion Aufrufe zu einer marktwirtschaftlichen Umgestaltung gab. „Die einzige realistische Alternative für das Land und seine Führung“, schrieb Sokirko in seinem Essay, „ist nun der baldmöglichste Verzicht auf die destruktive Idee allumfassender Planung und die baldmöglichste Legalisierung von sozialer Regulierung basierend auf Märkten.“ Als historisches Dokument stellt der Text somit die weitverbreitete Auffassung in Frage, dass wirtschaftsliberale Ansichten erst mit westlichen Beratern und „neoliberalen“ internationalen Netzwerken ins post-sowjetische Russland eingeschleust wurden.
Kritische Ökonomen in der Sowjetunion fürchteten bereits in den 1970er und 1980er Jahren, dass das Land auf eine Katastrophe zusteuere. Eine solche Fundamentalkritik an der Planwirtschaft, wie in Sokirkos Essay, war in kleinen Kreisen des liberalen Dissens und auch unter einigen führenden Wirtschaftsexperten an der Akademie der Wissenschaften verbreitet. Westliche Sowjetologen und Geheimdienste überschätzten dagegen oft dramatisch die Stabilität und Leistungsfähigkeit des Sowjetsystems.
Viktor Sokirko, Datum unbekannt. Archiv der Forschungsstelle Osteuropa,
Foto aus dem Bestand FSO 01-003 Kopelev.
Sokirko, 1939 in Charkiw geboren, war bereits seit Ende der 1960er Jahre in der Dissidentenbewegung aktiv, eckte dort aber mit seinen Vorstellungen einer freien Marktwirtschaft oft an. Seine wissenschaftliche Karriere beendete der Geheimdienst, woraufhin er sich vorrangig Samisdat-Aktivitäten und einer wöchentlichen Diskussionsrunde in seiner Wohnung widmete. Wegen anti-sowjetischer Agitation saß er 1980 für einige Zeit im Gefängnis.
Mit seinen wirtschaftspolitischen Vorschlägen drang er nie durch und spielte auch in der korrupten Privatisierung der 1990er Jahre keine Rolle. Aber mit seinem liberalen Aktivismus erreichte er immerhin die Freilassung von etwa 1000 Menschen, die im postsowjetischen Russland noch wegen wirtschaftlicher Tätigkeiten im Gefängnis saßen, die nur in einer Kommandowirtschaft als Verbrechen galten.
Tobias Rupprecht
Lesetipps
Beyrau, Dietrich: Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion, 1917-1985, Göttingen 1993.
Kotkin, Stephen: Armageddon Averted. The Soviet Collapse, 1970-2000, Oxford 2008.
Tobias Rupprecht ist Historiker und Leiter der Forschungsgruppe „Peripheral Liberalism“ am Berliner Exzellenzcluster „Contestations of the Liberal Script“. Derzeit schreibt er an einem Buch über das Verhältnis von sowjetisch/russischen Marktökonomen zum autoritären Staat in der Transformationszeit.
Länder-Analysen
» Länder-Analysen
» Caucasus Analytical Digest
» Russian Analytical Digest
» Ukrainian Analytical Digest
Online-Dossiers zu
» Russian street art against war
» Dissens in der UdSSR
» Duma-Debatten
» 20 Jahre Putin
» Protest in Russland
» Annexion der Krim
» sowjetischem Truppenabzug aus der DDR
» Mauerfall 1989