Ausstellung "SAMIZDAT. Alternative Kultur in Zentral- und Osteuropa. Die 1960er bis 80er Jahre"
Das Wort SAMIZDAT, aus dem Russischen übertragen, bedeutet "Selbst-Verlag" und bezeichnet von Flugblättern bis zu getippten oder gedruckten Büchern, von Kunstwerken bis Briefmarken all jene Objekte, die seit Mitte der fünfziger Jahre im ehem. Ostblock außerhalb der Zensur entstanden sind. Es ist eine erstaunlich bunte Welt, ein eigener Kosmos, in dem um das freie Wort und um alternative Räume gerungen wurde. SAMIZDAT war die parallele Kultur, in der heimlich gedruckte Zeitschriften und Aufsätze erschienen, in der sich Bürgerrechtsgruppen trotz permanent drohender Verhaftungen formierten, wo Theatergruppen Stücke in privaten Wohnungen und Kellerräumen aufführten, wo halboffizielle Galerien gegründet wurden, in denen man Werke verfemter Künstler ausstellte, wo Rockmusik die Freiheitssehnsucht der jungen Generation zum Ausdruck bringen konnte oder wo "fliegende Universitäten" entstanden, in denen das gelehrt wurde, was an den staatlichen Hochschulen seit den 40er Jahren tabuisiert war.
Die Ausstellung ist länderübergreifend konzipiert. Die Exponate sind, statt nach einzelnen Ländern, nach Themenbereichen geordnet, so daß ein vergleichender Blick auf diese Kultur möglich wird. Auf diese Weise wird der Besucher Gemeinsamkeiten wie auch grundlegende Differenzen feststellen können.
Zu den Highlights der Ausstellung gehören sicherlich die Erstausgaben der "Chronik der laufenden Ereignisse", das Informationsbulletin der sowjetischen Menschenrechtsbewegung von 1968, des polnischen Informationsbulletins KOR und die Gründungserklärung der Charta 77. Zu den frühesten Dokumenten der Ausstellung zählen die Gedichtbände des russische Schriftstellers Nikolaj Glazkov aus den 50er Jahren. Er gab seine verbotenen Gedichte in eigener Regie heraus und wählte als "Verlagsbezeichnung" auf dem Einband der Hefte den Begriff "Samsebja-izdat". Raritäten sind ebenso zwei frühe Bände von Egon Bondy aus der Mitternachtsedition (Edice pulnoc). Eine der ersten Samizdat-Ausgaben von Alexander Solschenizyns "Archipel Gulag", signierte Manuskripte von Václav Havel sowie Kunstwerke von A.R. Penck, Erik Bulatov, Tadeusz Kantor und Adriena Simotová gehören zu den wichtigen Zeugnissen der alternativen Welt.
"Europas Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert kann ohne Blick auf den Samizdat nicht geschrieben werden. So unscheinbar die "Chroniken" in der siebten Abschrift, Gedichte auf vergilbtem Papier oder Kassiber aus den Lagern auch sein mögen - so spektakulär war ihr Erscheinen. Sie alle haben das Gesicht einer ganzen Epoche mitgeprägt. Und dazu beigetragen die Epoche zu überwinden. Vom ersten Gedanken bis zum letzten Handgriff selbstgemacht, wurden die Texte im Samizdat nicht nur selbst verfasst, sondern auch selbst produziert, getippt, geheftet und in schmucke Einbände gebunden, ein Handwerk im Untergrund. Erst recht gilt dies für Künstlerbücher und Kunstwerke, die sich nicht länger staatlichen Anordnungen unterwerfen wollten. Ideen und Herstellungsformen schufen sich eigene Räume, um an verschüttete Traditionen anzuknüpfen, globale Trends in das Land zu holen und sich selbst der Welt mitzuteilen. Im Samizdat haben nicht nur nationale Kulturen überlebt, sondern sind Werke entstanden, die schon heute zum Kanon der europäischen Literatur gehören. Alexander Solschenizyns "Archipel Gulag"oder Vaclav Havels "Macht der Ohnmächtigen". Werke, ohne die das Jahrhundert ein anderes, ein ärmeres wäre."
Wolfgang Eichwede, in: "Europe and its Samizdat", Ausstellungskatalog, Bremen 2002
Link zum Ausstellungskatalog
Dokumentation einzelner Stationen der Ausstellungstournee:
Budapest
Millenaris Park
03.02. - 02.05.2004
Brüssel
Europäisches Parlament
05. - 15.11.2002
Prag
Nationalmuseum
06.05. - 25.08.2002
Berlin
Akademie der Künste
10.09. - 29.10.2000