Bibliothek und Archiv für Nutzung geschlossen
Bewerbungsschluss 05.01.2025
20h/Monat ab 1. April 2025; Unterstützung in Forschung und Lehre
Admin, max. 18h / Woche
zum 01.01.2025
Kolloquiumsvortrag
18:15 Uhr, IW3, Raum 0330 / Zoom
Kerstin Brückweh (Erkner)
Wohnen und Wohneigentum. Lässt sich aus der Geschichte der Transformation in Ostdeutschland lernen?
20.01.2025 Bewerbungsschluss
03.07.-05.07.2024, Dresden
Buchvorstellung
18:00 Uhr, OEG 3790
"The Making and Unmaking of the Ukrainian Working Class"
mit Dr. Denys Gorbach (Autor) und Prof. Dr. Jeremy Morris (Diskutant)
Wissenswertes
Brüssel, Europäisches Parlament, 5. bis 15. November 2002
Wladyslaw Bartoszewski
Eröffnungsrede im Europäischen Parlament in Brüssel am 5. November 2002
Sehr geehrte Damen und Herren,
der Samizdat, d.h. ohne Genehmigung der präventiven Zensur herausgegebene, eigens kolportierte Publikationen, hat in Polen eine besonders reiche und tief verwurzelte Tradition. Als solcher verkörpert er wie wohl kaum woanders den integralen Bestandteil der politischen Mentalität sowie nicht zuletzt der Kultur. Dieser Umstand resultiert logischerweise unmittelbar aus den historischen Erfahrungen mit totalitären bzw. autoritären Systemen der letzten zwei Jahrhunderte. Zwischen 1795 und 1918 - also ganze 123 Jahre lang - blieb der polnische Staat von der Karte Europas verschwunden. Sein Territorium wurde zwischen drei einstige Nachbargroßmächte aufgeteilt, nämlich Rußland, Preußen und Österreich. Dabei herrschten in dem größten, russischen Teil des besetzten Gebietes auf Anweisung von St. Petersburg drakonische Begrenzungen der kulturellen Freiheit, der Bildungsmöglich- keiten und somit der nationalen Identität. Unter diesen Bedingungen und ohne Rücksicht auf die drohenden Strafmaßnahmen entstand damals der Gedanke an selbstverlegte Schriften mit offiziell verbotenen Inhalten.
Während der 45 Jahre nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges, also in den Zeiten des Realsozialismus unter der Dominanz der Sowjetunion bildeten aber vor allem die Erfahrungen des Lebens unter nationalsozialistischer Besatzung ein Vorbild und einen Stimulus für illegale publizistische Aktivität. Die Entscheidung Hitlers, wonach "Polen wie eine Kolonie behandelt werden" sollte, nahm schon bald nach der Kapitulation des polnischen Staates konkrete Gestalt an. In dem Bericht des Generalgouverneurs Hans Frank von einer in Lodz unter Beteiligung des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda abgehaltenen Konferenz heißt es: "Reichsminister Dr. Goebbels führt aus, daß das gesamte Nachrichtenwesen der Polen zerschlagen werden müsse. Die Polen dürfen keine Rundfunkapparate und nur reine Nachrichtenzeitungen, keinesfalls eine Meinungspresse behalten."
Die im Untergrund herausgegebenen Printmedien bildeten damals eine kollektive Antwort der polnischen Bevölkerung, ungeachtet der Unterschiede in politischen Anschauungen. Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang, daß erste illegale Ausgaben schon im Herbst 1939 in Warschau aufgetaucht sind, was sogar dem Erscheinen nationalsozialistischer Propagandablätter in polnischer Sprache zeitlich vorausging. Das zeugt von der Dynamik dieser Tradition und dem entschlossenem Freiheitswillen.
Die Zahl all dieser Zeitschriften wird auf 400 - 500 geschätzt, die parallel in der Auflage von ein paar Tausend bis ein paar -zig Tausend mehr oder weniger regelmäßig und mit einfachsten Mitteln gedruckt wurden. Laut Bibliographien gab es in der Gesamtzeit der fünfjährigen deutschen Besatzung rund 1500 Periodika. Dazu kommen unzählige Flugblätter und 1300 bis 1400 Titel von Broschüren mit dem Umfang je zwischen 8 / 12 bis 200 Seiten - allesamt freiwillig kolportiert. Obwohl über den Besitz eines Radioempfängers die Todesstrafe verhängt worden war, basierten die meisten Nachrichten auf dem Abhör ausländischer Sender, allen voran der britischen BBC.
Trotz der Repressionen haben es die Deutschen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges nicht geschafft, die polnische Untergrundpresse in den Griff zu bekommen. "Erfolgreicher" (in Anführungszeichen) war in dieser Hinsicht die schwierigste Periode des Stalinismus - ich denke hier an die 40er und 50er Jahre bis zum Tod Stalins und Berias - eine Zeit in der es aufgrund des blutigen Terrors zur weitgehenden Eliminierung der illegalen Verlagsaktivität gekommen ist. Die gesellschaftlichen Proteste äußerten sich statt dessen in anderen Formen und kreisten um die traditionsgemäß einflußreiche katholische Kirche. Ein neues Kapitel in der Geschichte der Untergrundpresse hat erst 1975 die Konferenz in Helsinki eingeleitet, in erster Linie ihre Abschlußbestimmungen in bezug auf den sogenannten Korb III, d.h. die Menschenrechte, darunter die Denk- und Redefreiheit. Im Umfeld der damaligen demokratisch denkenden Eliten in Polen galt der Beschluß von Helsinki ab 1976 formal als grünes Licht für den Kampf um freie Meinungsäußerung. Dieser Standpunkt fand den sofortigen Ausdruck in dem Verhalten vieler Bischöfe - darunter des Erzbischofs und Krakauer Kardinals Karol Wojtyla - Professoren, Studenten und junger Akademiker verschiedener Berufe. Die Universitätsstädte wurden zu Zentren des Samizdat.
In der Zeit nationalsozialistischer Herrschaft beteiligte ich mich selbst (damals noch im Studentenalter) als Redakteur der polnischen Untergrundpresse. Ende der 70er und zu Beginn der 80er Jahre, habe ich mit anderen Gleichgesinnten der mittleren und älteren Generation die selbe Tätigkeit erneut aufgenommen - unter veränderten Bedingungen aber mit dem gleichen Ziel: gegen die rechtswidrige Begrenzung der fundamentalen Freiheiten jedes meschlichen Individuums. Laut der vor einigen Jahren in Warschau herausgegebenen Bibliographie der zwischen 1976 und 1989 (also bis zur großen Wende in Mittel- und Osteuropa) im zweiten Umlauf erschienenen Publikationen, sind in den Bibliothekssammlungen rund 30 Ausgaben meiner eigenen Texte erhalten geblieben. Die (noch nicht vollständige) Gesamtzahl der selbstverlegten Schriften dieser 14 Jahre beträgt mehr als 6,5 Tausend. Parallel dazu gab es rund 3000 Periodika, Zeitungen und Zeitschriften. Die ein- bis zweiseitigen Flugblätter sind allein aufgrund ihrer unüberschaubaren Menge bis heute wissenschaftlich noch nicht erfaßt.
Zum Inhalt gehörte neben Weltereignissen und politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Angelegenheiten des eigenen Landes auch die geschichtliche und kulturelle Thematik. Darunter befanden sich unzensurierte Ausgaben literarischer Werke, die im offiziellen Umlauf nicht zugelassen waren - Texte von solchen Autoren wie Orwell, Bukowskij, Besancon, Kolakowski oder Milosz. Nicht zuletzt gab es genügend Platz für Nachrichten aus den anderen Ländern unter Moskauer Diktatur: aus Rußland und Weißrußland, aus der Ukraine, aus den Baltischen Republiken, der Tschechoslowakei und Ungarn. In den Jahren 1981 - 1990 erschienen in Warschau 19 umfangreiche Hefte (eigentlich besser als Bänder zu bezeichnen) der Zweimonatszeitschrift "Obóz" ("Das Lager"), gewidmet ausschließlich der Situation in anderen Ostblockstaaten. Sie dienten dem Zweck der Selbstbildung, stellten aber zugleich ein Zeichen der Solidarität dar - mit jenen, die sich in den Nachbarländern (Rußland inbegriffen) allen Formen der intellektuellen und moralischen Tyrannei widersetzten - im eigenen Interesse und zugleich zu unserem gemeinsamen Wohl.
Diese imponierende Anstrengung hunderter Autoren, Herausgeber und Kolporteure übte einen immer stärkeren Einfluß auf das Bewußtsein der Leser im städtischen bzw. großstädtischen Milieu aus. Es war eine intellektuelle Anregung für alle, angefangen von Schülern und akademischer Jugend. Die wenigen gedruckten Exemplare wurden im privaten Bereich und mit eigenen Mitteln vervielfältigt, manchmal unter Zuhilfenahme gewöhnlicher Schreibmaschine, nicht selten in handschriftlicher Form. Der sogenannte zweite Umlauf hatte noch eine zusätzliche positive Auswirkung auf seinem Konto: er trug nämlich zur Überwindung der gesellschaftlichen Angstschwelle bei wodurch nicht einmal die Perspektive der zu befürchtenden Verfolgungen die ständig wachsende Zahl der Produzenten sowie Leser unabhängiger Publikationen aufhalten konnte. Dieser organisatorische und geistige Nachlaß begleitete auch die Jahre nach der Wende 1989 / 90. Ein charakteristischer Beleg dafür ist die Tatsache, daß die überwiegende Mehrheit der mittlerweile legalen Presse im neuen Polens von den Menschen geleitet wurde und immer noch wird, die ihre ersten Erfahrungen in Samizdat-Verlagen gewonnen haben.
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