Der eigene Standpunkt. Die persönliche Meinung der ZK-Mitglieder und ihr Einfluss auf die Innen- und Außenpolitik der Sowjetunion, 1964-1985.
Abgeschlossenes Forschungsprojekt von Dr. Nikolay MitrokhinDie Erforschung des Zentralkomitees der KPdSU ist ein Stützpfeiler für das Verständnis des Funktionsmechanismus des Machtapparates in der UdSSR.
Beinahe alle existierenden Zeugnisse in Memoiren- und Tagebuchform bestätigen, dass viele der ZK-Mitarbeiter zu diversen Aspekten des politischen, ökonomischen und sozialen Lebens eine eigene Position vertraten. Im bürokratischen Jargon der UdSSR bezeichnete man diese als „persönliche Meinung“, die sich von der offiziell propagandierten politischen Position der Staatsführung – der „Parteilinie“ – abgrenzte. Die Erforschung dieser „persönlichen Meinung“, sowie einer Reihe anderer Begriffe wie „Nomenklatura“, „Parteidisziplin“, „Kader“, „Verbindungen“, „blat“, „Sitzung“, „Beförderung“ und „Telefonrecht“, ist äußerst wichtig für das Verständnis der Regierungsmethoden der UdSSR, unterlag jedoch bisher keiner wissenschaftlichen Untersuchung.
Die „persönliche Meinung“ wurde in der Regel nicht offen kund getan, konnte jedoch im offiziellen, sowie nichtoffiziellen Rahmen geäußert werden. Sie diente nicht als Anlass für offenen Widerstand gegenüber den Anordnungen der Führung oder der aktuellen „Linie“ der Staatsführung. Ungeachtet dessen hatten die ZK-Mitarbeiter eine Vielzahl an Möglichkeiten im Arbeitsalltag ihre „persönliche Meinung“ zu äußern, die beinahe immer zahlreiche Alternativen darbot.
Im Rahmen des Forschungsprojekts sollen folgende Fragen erörtert werden:
In welchem Moment entstand bei einem Beamten seine s. g. „persönliche Meinung“?
Welche Motive führten zu ihrem Entstehen und ihrer Entwicklung?
Welche Gründe führten zu Veränderungen von Sichtweisen?
Was konnte konkret eine solche persönliche Meinung bewirken?
Die wissenschaftliche Hypothese dieses Forschungsprojektes besteht darin, dass alle Beamten, die ihren Dienst im ZK der KPdSU aufnahmen, über einen bestimmten sozialen und Bildungshintergrund verfügten, der oft für die Bildung ihrer „persönlichen Meinung“ in vielen konkreten Fragen maßgeblich verantwortlich war. Der Einfluss ihrer Erziehung, ihres studentischen Freundes- und des beruflichen Kollegenkreises sorgte sooft für eine bestimmte „Auffassung“ von politischen, sozialen und kulturellen Problemen, mit denen sich der ZK-Beamte im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit beschäftige. Kaum jemanden von ihnen gelang es sich von den Stereotypen, die sich über Jahrzehnte im „vorparteilichen“ Lebensabschnitt formierten, zu distanzieren. Aus diesem Grund stellten die Beamten des Zentralkomitees, das sich aus diversen Schichten der sowjetischen Gesellschaft formierte, eine bunte Palette von „persönlichen Meinungen“ dar. Innerhalb des Apparates suchten die Träger ähnlicher Ansichten nach Möglichkeiten ihre Bemühungen zu koordinieren und gemeinsame Initiativen und Interessen zu lobbyieren – sei es die Unterstützung des progressiven Taganka-Theaters oder die Gewährung von finanziellen Mitteln für den Bau neuer Unternehmen in der Region Krasnodar.
Der Fokus des Projektes wird jedoch explizit auf die Erörterung der Gründe gerichtet sein, welche die ZK-Mitarbeiter zu dem machten, was sie sind, wie die Teilnahme ihrer Eltern an der Revolution und dem Bürgerkrieg, die eigene Pionier- und Komsomolzeit, Repressionen gegenüber Verwandten, persönliche Kriegserfahrungen im Zweiten Weltkrieg, die Tendenz zu liberalen oder konservativen Ansichten während der Studentenzeit, die berufliche Karriere und die Solidarität gegenüber Branchen- oder regionalen Interessen. Relevant ist ebenfalls, wie neben der Arbeit im ZK alte „Verbindungen“ erhalten blieben und neue entstanden, die als zusätzlicher Nebenerwerb innerhalb des vom Apparatschik kontrollierten Bereichs dienten. Und wie mit Hilfe dieser Verbindungen sich die ZK-Mitarbeiter attraktive Posten nach ihrem Ausscheiden aus dem Dienst des Apparates sicherten.
Das Projekt beschränkt sich auf die Zeitspanne 1964-1985, die Amtszeiten von Leonid Breschnew und zwei seiner Nachfolger Jurij Andropow und Konstantin Tschernenko. Diese Periode der neuesten Geschichte Russlands, mit deren Bearbeitung die Historiker erst jetzt beginnen, ist bisher wenig erforscht. Gleichzeitig befindet sich noch eine bedeutende Anzahl an ZK-Mitarbeitern dieser Epoche unter uns, die außerordentlich wertvolle Zeugnisse aus dieser Zeit liefern können.
Als Forschungsquellen für die Projektarbeit dienen Zeitzeugengespräche, die im Rahmen des Projektes vorbereitet wurden, sowie Memoiren, Tagebücher, Fotografien und Arbeitsnotizen aus persönlichen Archiven ehemaliger ZK-Mitarbeiter. Teilweise werden sie mit Akten der für Wissenschaftler zugänglichen Archive des ZK der KPdSU ergänzt.
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